Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Anzug ausdrückt.
„Natürlich“, sagt der Schulrat und räuspert sich.
Der Direktor betrachtet den Aktenordner, der aufgeschlagen auf dem Tisch vor ihm liegt. „ Strauss. Wir haben Sie herbestellt, um mit Ihnen über gewisse Vorkommnisse zu sprechen.“ Der Direktor blickt auf und sieht ihm erstmals direkt ins Gesicht. Er gibt sich keine Mühe, seine Feindseligkeit zu verbergen. Der Lehrer sieht sie in seinen blassblauen kleinen Altmänneraugen glimmen, die feucht in ihren tiefen Höhlen schimmern.
„Trifft es zu“, fragt der Direktor nach einem kurzen Blick auf seine Notizen, „dass Sie Ihre Klasse nicht zum Morgengebet angehalten haben?“
„Ja“, sagt der Lehrer.
„Trifft es weiterhin zu, dass Sie Kollegen gegenüber wider die Taufe gesprochen haben?“
Der Lehrer räuspert sich. „Mit der Taufe nimmt man den Kindern das Recht auf Selbstbestimmung. Die Taufe ...“
„Schweigen Sie!“ Die Augen des Direktors fixieren ihn kalt. „Dies ist eine katholische Schule unter kirchlicher Leitung. Ihre blasphemischen Reden ekeln mich an. Antworten Sie nur mit Ja oder Nein auf meine Fragen.“
Der Lehrer wirft einen Blick zum Schulrat hinüber. Obermeier lehnt in der Ecke neben der Tür und hat die Augen gesenkt. Er sagt kein Wort. Der große Mann neben ihm blickt ebenfalls zu Boden. Die Hutkrempe verdeckt sein Gesicht.
„Wer ist das?“, fragt der Lehrer und deutet auf den Mann, der reglos, fast g elangweilt neben der Tür steht.
„Lenken Sie nicht ab, Strauss. Es geht hier einzig und allein um Sie.“ Der Direktor tupft sich Stirn und Mund mit seinem weißen bestickten Taschentuch ab, ehe er mit dem Verlesen der Anklagepunkte fortfährt. Es sind viele.
„Woher wissen Sie all das?“, fragt der Lehrer, als der Direktor schließlich erschöpft inne hält.
Der Direktor lächelt. Es ist das Grinsen einer Hyäne. „Schwester Gisela war so freundlich, mich über die Vorkommnisse in Ihrer Klasse auf dem Laufenden zu halten.“
„War sie das.“ Der Lehrer sieht Schwester Gisela ins Gesicht. Sie hält seinem Blick einen Moment lang s tand, bevor sie den Kopf senkt.
„Was ist so verwerflich daran, die Kinder mit der Wahrheit zu konfrontieren?“, fragt er.
„An der Wahrheit ist nichts Verwerfliches“, sagt der Direktor. Dann schreit er: „Es ist nur Ihre Wahrheit, die verwerflich ist! Diese Hirngespinste, das Sie sich selbst zurechtgezimmert haben!“ Während er schreit, erhebt er sich langsam von seinem Stuhl und beugt sich über den Tisch nach vorn. Der Lehrer riecht das Frühstück in seinem Atem und fühlt Speicheltropfen auf seinem Gesicht. „Sie hätten lieber zum Herrn beten sollen, anstatt Ihre Zeit so unnütz und falsch zu vergeuden! Was weiß einer wie Sie schon von der Wahrheit? Nichts wissen Sie, gar nichts!“
Der Pfarrer legt dem Direktor eine Hand auf den Arm. „Herbert“, sagt er mit leiser Stimme, „beruhige dich.“
Der Direktor atmet schwer. Sein Gesicht hat sich purpurrot verfärbt. Auf seinem Hals zeichnen sich hektische rote Flecken ab. In der einsetzenden Stille hört man den Regen gegen die Fenster prasseln. Der Direktor wischt sich mit dem Taschentuch einen Speichelfaden vom Kinn und setzt sich. Als er weiterspricht, klingt seine Stimme müde. „Haben Sie das Kreuz in Ihrem Klassenraum abgenommen?“
„Ja.“
„Warum haben Sie das getan?“
Der Lehrer weiß, dass er nichts mehr zu verlieren hat. „Weil ich den Kindern den Anblick dieses gefolterten, sterbenden Mannes nicht Tag für Tag antun wollte.“
„Du musst die Falschheit deines Redens und Handelns erkennen, und ER wird dir vergeben“, sagt der Pfarrer. Der Lehrer sieht echtes Entsetzen in seinen Augen. „Gott liebt seine Kinder.“ Er senkt die Stimme zu einem Flüstern. „Kehr um, dies ist nicht dein Weg.“
Der Lehrer antwortet nicht.
Der Pfarrer fragt: „Wann bist Du gestrauchelt, Erik?“.
„Gestrauchelt?“ Erik stößt schnaubend Luft aus. „Mal sehen. Vielleicht an dem Tag, an dem ich alleine aus einem Schützengraben am anderen Ende der Stadt zurückkehrte, ohne meinen Bruder, für den ich verantwortlich war? Vielleicht in dem Moment, als meine Mutter und ich den Brief erhielten, in dem stand, dass mein Vater im Einsatz verschollen sei? Möglicherweise irgendwann in den darauf folgenden fünf Jahren, in denen meine Mutter Tag für Tag auf die Rückkehr meines Vaters wartete. Und dann vor Kummer gestorben ist. Ich fürchte, da könnte ich gestrauchelt sein. Denn es war niemand mehr
Weitere Kostenlose Bücher