Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Flugzeug?“, fragte Erik, doch niemand antwortete ihm. Er wandte sich zu der Stelle um, an der der Mann gestanden hatte. Er war verschwunden.
„Hallo?“, schrie Erik. Seine Stimme hallte durch die Höhle wie ein Pistolenschuss. „Wo sind Sie?“
Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Die Höhle war leer. „Lassen Sie mich nicht allein!“, brüllte er. Dem Echo seiner Stimme folgte die Stille. Noch einmal drehte er sich um die eigene Achse und überlegte verzweifelt, welchen Weg er einschlagen sollte. Dann lief er taumelnd los. „Vater“, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Ich komme zu dir.“
Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er irrte durch die Gänge und Spalten des Gletschers wie eine Ratte durch ein Labyrinth. Er erklomm Abhänge und sprang über Risse im Eis, kroch durch Tunnel und zwängte sich durch Schächte, die kaum breiter waren als er selbst. Er wanderte durch endlose Korridore aus Eis, überquerte rauschende weiße Flüsse und verlor sich in Höhlen, gegen die die erste Höhle sich ausnahm wie eine Puppenstube. Alles war in ein seltsames, milchiges Licht getaucht. Die Konturen des Eises verschwammen. Mehrmals verlor er fast das Bewusstsein, doch er wusste, dass er noch eine Aufgabe zu bewältigen hatte. Seine letzte Aufgabe.
Er taumelte durch den Gletscher wie ein Schlafwandler, halb wach, halb weggetreten, und als er seine Uhr aus der Tasche zog, liefen die Zeiger mit irrwitziger Geschwindigkeit rückwärts.
Irgendwann blieb Erik stehen. Er fühlte sich unendlich müde. Er setzte sich auf den Boden, um sich kurz auszuruhen. Innerhalb weniger Sekunden schlief er ein, und er trä umte von Marie und seinem Kind.
Jemand rüttelte ihn wach. Als er die Augen aufschlug, stand sein Bruder Hendrik vor ihm.
„Schlaf jetzt nicht“, sagte Hendrik. „Bald wirst du lange schlafen. Steh auf.“ Hendrik streckte seine Hand aus. Erik ergriff sie, und Hendrik zog ihn auf die Füße. Erik zitterte so sehr, dass das Klappern seiner Zähne laut von den Wänden wiederhallte.
„Vater wartet auf dich“, sagte Hendrik. „Er ist nicht mehr böse. Geh jetzt zu ihm.“ Hendrik deutete auf eine schmale Öffnung im Eis. „Er wartet dort drüben auf dich. Er wartet schon so lange.“
„Komm mit mir“, sagte Erik mit erstickter Stimme.
Hendrik schüttelte den Kopf. „Ich muss gehen.“
„Lass mich nicht allein“, flüsterte Erik.
Hendrik lächelte. Dann ließ er Eriks Hand los und ging langsam über das Eis davon. Erik sah ihm nach, bis er verschwunden war.
Er durchquerte den Spalt im Eis, den Hendrik ihm gezeigt hatte. Doch auf der anderen Seite traten seine Füße ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zwei Meter in die Tiefe. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen. Er schlitterte einen steilen Abhang hinunter. Am Ende des Abhangs blieb er liegen und krümmte sich in Embryonalhaltung zusammen. Er wollte nicht mehr aufstehen. Er wollte für immer hier liegen bleiben.
Als er aufblickte, bemerkte er, dass er sich in einer großen, kuppelförmigen Höhle befand, deren Ausmaße er nicht einmal annähernd abschätzen konnte. Dann sah er das Flugzeug.
Eiskristalle glitzerten auf den zerbrochenen Tragflächen. Der Rumpf des Jagdbombers war halb im Eis des Gletschers begraben. Erik stand auf und stolperte auf das Flugzeug zu. Es war eine Ju 88. Es war das Flugzeug seines Vaters.
Als er näher kam, sah er, dass das Glas der Pilotenkanzel geborsten war. Die Kanzel war eingedrückt, so als wäre das Flugzeug bei seinem Sturz in die Gletscherspalte auf seiner Schnauze gelandet. Im Pilotensessel hinter den verbogenen Metallstreben der Kanzel saß eine eisverkrustete Gestalt. Sie saß aufrecht, und ihr K inn ruhte auf ihrem Brustkorb. Erik trat langsam auf die Kanzel zu. Er spürte ein Wimmern in seiner Kehle aufsteigen, doch er drängte es zurück. Er sah die aufgerissene Fliegermütze, die das akkurat gescheitelte Haar bedeckt hatte, das jetzt von einer dicken Eisschicht überzogen war. Er sah die zersplitterte Fliegerbrille über den stechenden blauen Augen, die jetzt eingefallen und vertrocknet waren. Er sah den mächtigen Schnurrbart, dessen Enden in die Höhe gezwirbelt waren und von dem jetzt Eiszapfen herabhingen. Er sah das stolze, harte Gesicht, das jetzt faltig und dunkel wie Leder und mit einer dünnen Eisschicht bedeckt war. „Hallo, Vater“, sagte er. Sein Hals fühlte sich rau an.
„Hallo, mein Junge“, sagte Theodor Strauss.
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