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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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nehmen Sie sich meinen Rat zu Herzen: Vergessen Sie die Sache mit Ihrem Vater! Lassen Sie Ihren alten Herren in Frieden ruhen. Sie werden auf dem Gletscher nichts finden, was nicht schon längst in Ihnen selbst schlummert.“
    Erik stand auf. „Danke für Ihre Zeit, Thomas.“
    Der Pfarrer lächelte ihm ein letztes Mal zu und beugte sich über das geöffnete Uhrwerk. Erik verließ die Bibliothek. In seinem Rücken glaubte er Thomas Hellermanns stechenden Blick zu spüren. Doch als er sich umdrehte, war der Pfarrer nach wie vor über die geöffnete Werksuhr gebeugt.
    Er ging ins Gästehaus hinüber. Die Schnitte in seiner Hand pochten im Rhythmus seines Herzschlags. In seiner anderen Hand hielt er den Fingerknochen noch immer fest und sicher umschlossen.

Kapitel 2 2
     
    Es war kühl im Gästehaus, und nachdem Erik ein Feuer entfacht hatte, saß er lange im Sessel vor dem Kamin, wärmte sich auf und betrachtete den kleinen Knochen, der auf seiner Handfläche lag. Der Knochen schimmerte rötlich im Schein der Flammen. Er dachte an sein Erlebnis in der alten Mühle, an den verrückten Kanter und sein langes Gespräch mit dem Pfarrer. Der merkwürdige Blick des Pfarrers ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Aber das war nur ein Augenblick , dachte Erik. Willst du ihn auf diesen Augenblick reduzieren?
    Der Gletscher , flüsterte die Stimme in ihm. Er lässt dich endlich auf den Gletscher. Dort wirst du Antworten finden.
    Erik drehte den Knochen zw ischen den Fingern hin und her.
    Was bist du ? , dachte er. Ein Finger? Oder doch eine Rippe? Ein Teil eines Schwanzes vielleicht? Am Ende nur ein Tierknochen? Er wusste es nicht. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er die Wahrheit nie erfahren würde, wenn er nicht die notwendigen Schritte einleitete. Wenn er nicht endlich die Dinge in die Hand nahm. Du musst mit jemandem reden , sagte er sich. Aber mit keinem aus dem Dorf! Mit einem von außerhalb, der sich mit derlei Dingen auskennt.
    Er dachte an die wenigen Freunde in München und Garmisch, die ihm geblieben waren, aber sie schienen ihm unerreichbar. Dann kam ihm der Arzt in Bruch in den Sinn, der Agathe geholfen hatte. Erik versuchte, sich an den Namen des Arztes zu erinnern, aber er kam nicht darauf. Schließlich stand er auf und verstaute den Knochen im hintersten Winkel einer Schublade seiner Wäschekommode. Der Gedanke, seine Sachen zu packen und zurück nach München zu fahren, bedrängte ihn nicht zum ersten Mal. Aber diesmal traf er ihn mit der Wucht einer Lokomotive. Er krümmte sich zusammen und sah auf seine zitternden Hände hinunter. Etwas stimmt hier nicht , dachte er. Oder stimmt etwas nicht mit dir?
    Dann setzte er sich an den Esstisch und schrieb einen langen Brief an Marie, in dem er ihr alles erzählte, was vorgefallen war. Er ließ nichts aus, und er beschönigte nichts. Er sagte ihr, dass sie nicht herkommen sollte. Danach fühlte er sich etwas besser.
     
    Er saß am Kamin, und vor seinem inneren Auge liefen die Ereignisse der vergangenen Tage ab wie ein Film in einer Endlosschleife. Immer wieder dachte er an Cornelius Piels Pass, den er im Keller gefunden hatte. Er dachte an die schwere, eisenbeschlagene Holztür, die er dort verschlossen vorgefunden hatte, und an die leere Zelle, die dort dahinter in Dunkelheit lag. Er dachte an einen Mühlstein, der vom Saft zermahlener Schlachtabfälle schwarz verfärbt war. Immer wieder blitzte dabei der Anblick des in der Sonne leuchtenden Fingerknochens hinter seinen geschlossenen Lidern auf. Manchmal kehrte das Rot wieder, das im Zimmer der toten Mathilda auf ihn eingestürzt war, und manchmal dachte er an den Toten in der Kirche, den er an seinem ersten Abend in Thannsüß zu Gesicht bekommen hatte. Er erinnerte sich, dass der Leichnam furchtbar entstellt war. Er hatte ähnliche Verletzungen aufgewiesen wie die, die er bei Mathilda zu sehen geglaubt hatte. Er grübelte lange darüber nach, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. Irgendetwas stimmt hier nicht, verdammt noch mal , dachte er. Ich spüre es. Aber ich kann meinen Finger nicht darauf legen.
    Über seinem düsteren Brüten lag das schwermütige Heulen des Windes, der durch die Spalten des Gletschers wehte und das Eis dabei blankpolierte, als wollte er jede Spur, jede Erinnerung, jeden sinnvollen Gedanken für immer mit sich forttragen. Und unter das stete Jammern des Windes mischte sich ein anderes Geräusch, das Flüstern einer Stimme. Es war die Stimme seines Vaters, die ihn zu sich rief.

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