Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Erik presste sich die Hände auf die Ohren, bis die Geräusche endlich erstarben. Schließlich stand er auf. Er zog seinen Mantel an, nahm den Brief an Marie vom Tisch und verließ das Gästehaus. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Felder, den Wald und die schneebedeckten Gipfel dahinter in karmesinrotes Licht. Er gab den Brief an Marie auf dem Postamt ab. Kathi Brechenmacher empfing ihn lächelnd.
„Ich möchte meine Frau anrufen “, sagte er knapp.
„Es tut mir furchtbar leid, Erik. Das Telefon ist kaputt.“
„Kaputt? Was …“ Er hob die Arme in einer hilflosen Geste. „Können Sie es reparieren?“
„Nun ja.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Manchmal ist es einfach ... kaputt. Aber bestimmt funktioniert es morgen wieder. Ach übrigens: Ihre Bücher sind angekommen.“
„Meine Bücher?“, fragte Erik und wusste einen Moment lang nicht, wovon sie sprach.
„Die Bücher!“, sagte Kathi und sah ihn streng an. „Günther Halbermaß, der Postmann, hat sie direkt am Pfarrhaus abgeliefert. Erik, geht es Ihnen gut?“
Er erwachte aus der Lähmung, die plötzlich über ihn gekommen war. „Verzeihen Sie. Ich war in Gedanken.“ Erik dankte ihr und beeilte sich, das Postamt zu verlassen. Er machte sich auf den Rückweg, aber er wollte jetzt nicht allein sein. Auf dem Marktplatz stand er unschlüssig in der Dunkelheit, bis die Kälte ihn zu einer Entscheidung zwang. Aus den Fenstern der Dorfschänke neben dem Postamt fiel Licht auf die Straße, und aus der offenen Eingangstür drangen gedämpftes Gelächter und Stimmengemurmel.
Als er eintrat und zur Theke ging, folgten ihm neugierige Blicke. Gesichter glitten im Rauch und im Zwielicht an ihm vorüber. Der Schankraum war erleuchtet vom Schein elektrischer Glühbirnen. Von einem Regal hinter der Theke ertönte der blecherne Klang eines Radiogerätes. Zehn oder zwölf Gäste saßen an den schlichten Holztischen. An einem kleinen Tisch im Hintergrund der Wirtschaft saß ein einzelner Mann, der Erik unentwegt anstarrte. Doch als Erik seinen Blick erwiderte, bemerkte er, dass die dunklen, leblosen Augen des Mannes geradewegs durch ihn hindurchblickten, durch die Theke und durch die Wände des Wirtshauses und noch viel weiter. Der reglose, verlorene Gesichtsausdruck des Mannes ließ ihn frösteln. Er wandte sich ab. Die alte Gerda stand hinter der Theke und bediente den Zapfhahn. Erik kannte die Pensionswirtin von seinen sporadischen Besuchen in der Schänke. Gerda hatte einen Buckel, der ihren Oberkörper in eine gekrümmte Haltung zwang. Sie bewegte sich sehr langsam. Jede ihrer Bewegungen wirkte schmerzhaft auf ihn, aber dessen ungeachtet schien sie gut zurechtzukommen. Er bestellte ein Bier bei ihr. Sie nickte und stellte einige Momente später einen vollen Steinkrug vor ihm auf die Theke. Erik nahm einen Schluck von seinem Bier und sah sich in der Wirtsstube um. Glühbirnen tauchten die Gesichter der Anwesenden in schummriges Licht. Während er an der Theke stand und sein Bier trank, lauschte Erik der Radioübertragung. Die Nachrichten liefen.
„Im Fall der mumifizierten Babyleiche kommen die Ermittlungen der Polizei nur langsam voran“, verkündete der Sprecher. „Neuesten Erkenntnissen zufolge lag der Säugling etwa fünf Jahre im Eis, ehe er vergangene Woche von Wanderern im Schmelzwasserfluss gefunden wurde. Die Bevölkerung ist aufgerufen, Hinweise, die zur Aufklärung des Falles beitragen könnten, unverzüglich der Polizeistation in Bruch mitzuteilen. Ein Polizeisprecher erklärte ...“ Mit einem Mal erloschen sämtliche Lichter, und die knisternde Übertragung verstummte. Erik hatte sich längst an den allabendlichen Stromausfall gewöhnt. Aber oft ertappte er sich dabei, wie seine Hand panisch nach seinem Feuerzeug tastete, um die Petroleumlampen oder wenigstens ein paar Kerzen zu entzünden. Denn hier oben, damit hatte Anna Recht behalten, war die Dunkelheit fast greifbar. Die Nacht war dick und schwer wie Pech.
Die Wirtin verteilte Petroleumlampen auf den Tischen. In einem abgeschiedenen Winkel des Raumes entdeckte Erik den Bürgermeister und Benedikt Angerer. Die beiden waren in eine Unterhaltung vertieft. Erik trat näher, um ihnen einen guten Abend zu wünschen, aber etwas ließ ihn innehalten. Er war jetzt nah genug, um einige Wortfetzen aufschnappen zu können. Er hörte die Wörter „Mühle“ und „Kanter“, ehe das Stimmengewirr im Schankraum plötzlich anschwoll und lautes Gelächter durch die Wirtschaft tönte.
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