Der Teufel mit den blonden Haaren
„Wo ist Sabine?“
Seine Frau packte gerade den Toast in eine Serviette.
„Sabine? Bei ihrer Freundin Ruth am Starnberger See. Hat sie das nicht gestern schon gesagt?“
„Ach so — ja“, nickte er. „Vielleicht habe ich das vergessen.“
Sie trat zu ihm, ehe er die Tür wieder schließen konnte.
„Fehlt dir etwas, Harald? Ist dir nicht wohl?“
„Wieso?“ fragte er rauh zurück. „Warum soll mir was fehlen?“
„Du siehst so... so abgespannt aus.“
„Kunststück“, sagte er. „Letzte Nacht nicht viel geschlafen und heute ein paar verdammt harte Brocken für mich. Wann essen wir?“
„In fünf Minuten“, sagte sie, und war eine Sekunde lang versucht, ihm ins Gesicht zu sagen, daß er diese Nacht nicht bei den genannten Freunden verbracht habe... „Willst du die Eier hart oder im Glas?“
„Lieber im Glas“, sagte er und verließ die Küche.
Warum, dachte sie, warum habe ich es ihm nicht gesagt? Sie wußte es selbst nicht, daß sie instinktiv genau das Richtige getan hatte: man darf niemanden so in eine Ecke drücken, daß er keinen Ausweg mehr sieht, wenn man nicht alles für immer zerstören will.
Wenige Minuten später erklang der Gong, der die Familie zum Essen rief.
Sie saßen zu viert am Tisch, und jeder sprach von etwas anderem, als er dachte.
Frau Ingrid dachte, ob ihr Mann und dieses Mädchen ein gemeinsames Geheimnis zu verbergen hatten — und sprach von dem Buntspecht, der heute zum ersten Male an die Futterstelle vor dem Fenster gekommen war.
Toni dachte daran, daß Gaby ihm versprochen hatte, heute nacht wirklich zu ihm zu kommen, daß sie ihn wirklich liebte — und sprach von dem bevorstehenden Schützenfest in Bad Tölz, zu dem auch die Familie Mercker einen Preis stiften müsse.
Harald Mercker dachte daran, wie sehr er seine Frau liebe und überlegte, wie er sich dieses Mädchens entledigen könne, ohne daß es Aufsehen erregte und seine Frau etwa einen Verdacht schöpfen könne — und sprach von einem Verkehrsdelikt, das er heute in einer Verhandlung zu beurteilen und den Schuldigen zu verurteilen gehabt habe.
Und Gabriele dachte, daß es ihr unbedingt gelingen müßte, das angebahnte Verhältnis mit dem Richter aufrechtzuerhalten und trotzdem von Toni ein Kind zu bekommen — und sprach von Frau Ingrids gefüllten Tomaten, die sie noch niemals so köstlich gegessen habe...
Mitten in dieses äußerlich so glückliche, innerlich so sehr verkrampfte Abendessen hinein schrillte die Klingel vom Gartentor.
Dieses Klingeln brachte die vier Menschen für eine Sekunde dazu, ihre Masken fallenzulassen: sie starrten sich so erschrocken an, als wüßten alle, daß draußen am Gartentor der Tod geklingelt habe.
Toni, der am wenigsten von den inneren Spannungen wußte, hatte sich als erster gefaßt. Er stand auf.
„Wer kann das so spät noch sein? Ich gehe nachschauen.“
Aber sein Vater, von einer ungewissen Ahnung getrieben, kam ihm zuvor.
„Bleib nur“, sagte er. „Es kann sein, daß man mir noch eine Akte schickt, der Staatsanwalt hat für einen Fall noch zusätzliche Ermittlungen... ich gehe schon.“
Mutter und Sohn schauten sich kurz an.
Gabys Stimme klang so sorglos und unbekümmert, wie eh und je:
„Schlimm ist das, Frau Ingrid — nicht einmal abends läßt man Ihren Mann in Ruhe.“
Es war Ingrid, als höre sie hinter diesen Worten einen Triumph, und als hätte Gaby soeben gesagt: „Siehst du, jetzt fängt er die Briefe oder Telegramme seiner Geliebten schon selbst am Gartentor ab.“
*
Gegen ein Uhr morgens sah ein Mann vom Steuer seines Wagens aus einen jungen Burschen die Auslage eines kleinen Waffengeschäfts in einer ziemlich dunklen Nebenstraße ausräumen. Der Mann am Steuer fuhr langsam vorbei — der große Wagen rollte fast lautlos und ohne Gas dahin, so daß der Bursche ihn überhörte. Der Mann am Steuer beobachtete den jungen Mann, sah, wie der Kerl einige Gegenstände aus dem Schaufenster in seine Tasche steckte — und dann fuhr der Mann weiter. Er wohnte nicht weit von hier, er kannte sogar den Waffenhändler. Aber er fuhr weiter, weil er auch nur ein Mensch war und vor zwei Dingen Angst hatte: einmal wollte er sich von dem Einbrecher nicht womöglich eine Kugel verpassen lassen, und zweitens legte er keinen Wert darauf, von der Polizei als Zeuge vernommen zu werden. Dann hätte er nämlich erklären müssen, wieso er um diese Zeit durch eben diese Straße gefahren war — und das wiederum brauchte seine Frau nicht zu wissen.
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