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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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bange in die Höhe und sagten: »Schaut nur, die Ursina lüftet ihr Federbett.«

6

    Wie das Innere einer Muschel wölbte sich der Himmel über Val Grisch. Langsam begann sich an den Kämmen eine perlmuttfarbene Kontur abzuzeichnen. Das Dorf dämmerte dem ersten wolkenlosen Sommertag des Monats entgegen.
    Es war kurz vor fünf. Der Kirchturm von San Jon ragte als Schattenbild in den blassen Morgen. Mit leisem Surren setzte sich die Mechanik des Schlagwerks in Bewegung und ließ in kurzen Abständen die Schwengel auf die G- und E-Glocke schnellen. Dingdang, dingdang, dingdang, dingdang, schlugen sie die Viertelstunden.
    Und schwer und feierlich folgten die Stundenschläge: Dong. Dong…
    Sonia war bei den ersten Viertelstundenschlägen aus einem unruhigen, traumschweren Schlaf erwacht. Als sie sah, daß noch kaum Licht durch die Vorhangspalte drang, schloß sie die Augen wieder und zählte die Stundenschläge. Dong. Dong.
    Beim sechsten stöhnte sie.
    Beim siebten schlug sie die Bettdecke zurück.
    Beim achten stand sie auf.
    Beim neunten stand sie in der kühlen Luft des offenen Fensters und sah die Bergkette im Dunst der Morgendämmerung.
    Dong. Dong.
    Zwölf Schläge zählte sie. Dann blitzte ein erster Sonnenstrahl über den Kamm des Piz Vuolp.
    Auf dem Parkplatz des Gamander sah Sonia den Milchsammelwagen stehen.
    Auch Gian Sprecher sah den Milchsammelwagen. Die zwölf Glockenschläge hatten ihn vor den Stall gelockt. Er nahm den Feldstecher von seinem Nagel und suchte das Dorf ab. Die Straße war menschenleer.
    Aber beim Gamander bewegte sich etwas. Reto Bazzells Pajero wendete und fuhr aus dem Parkplatz. Sprecher verfolgte ihn mit dem Feldstecher, bis er in der Kurve verschwand.
    Er richtete das Glas wieder auf das Dorf. Jetzt sah er Sandro Burger eilig die Straße heraufkommen. Noch im Gehen stopfte er sich das Hemd in die Hose und blickte immer wieder kopfschüttelnd zum Kirchturm hinauf. Sprecher bekam noch mit, wie Sandro den Schlüsselbund aus der Tasche fischte, dann wurde ihm die Sicht durch eines der Häuser genommen.
    Er lachte auf und ging in den Stall zurück.
    Sandro Burger hatte die Hände im Nacken gefaltet und studierte die Bedienungsarmatur des Uhrwerks. Neunzehnhundertvierundsechzig war die Turmuhr von San Jon restauriert und elektrifiziert worden. Seither war sie, außer bei seltenen Stromausfällen, einwandfrei gelaufen. Es kam vor, daß das Uhrwerk nicht ganz synchron mit dem Schlagwerk lief. Aber die Differenz war minim, es genügte, wenn Sandro Burger die Zeiger jeden zweiten Montag in Übereinstimmung brachte.
    Aber jetzt zeigte die Uhr des Schlagwerks auf zehn nach zwölf. Ein Unterschied von sieben Stunden konnte nicht von selbst entstanden sein. Jemand hatte die Uhr manipuliert.
    Das Hauptportal war abgeschlossen gewesen, als Burger kam. Jetzt ging er zum Seiteneingang. Auch verschlossen. Genauso wie die zwölf Fenster mit den Glasmalereien.
    Burger setzte seinen Rundgang fort. In der Sakristei stieß er auf ein Fenster, das nur angelehnt war. Es blickte auf den kleinen Friedhof, dessen älteste Steinkreuze in die Kirchenmauer eingelassen waren. Eines davon stand direkt unter dem niedrigen Sakristeifenster. Eine Leiter aus Stein.
    Burger war sich sicher, daß das Fenster gestern abend geschlossen gewesen war. Kontrolliert hatte er es allerdings nicht, es wurde nie geöffnet.
    Wenn Herr Häusermann auf dem Schädel nur einen Bruchteil der Haare hätte, die auf seinem Rücken wuchsen, müßte er ihn nicht kahlrasieren. Sonia massierte nicht gern behaarte Körper. Die Haare neigten dazu, sich zu kleinen Kügelchen zu verknoten, denen nur mit dem Nagelscherchen beizukommen war.
    Sie beließ es also im Rücken- und Schulterbereich bei einigen leichten Streichungen und konzentrierte sich dann auf den Lendenwirbelsäulenbereich, wo die Körperbehaarung nicht so dicht war.
    Ihre gespenstische Bettlektüre, die Traumfetzen der Nacht und die zwölf Glockenschläge im Morgengrauen hatten das Gefühl der Unwirklichkeit, das sie hier oben beschlichen hatte, noch verstärkt. Etwas stand bevor. Sie fühlte die Unruhe einer Katze vor der Naturkatastrophe. Und auch deren Unfähigkeit, sich mitzuteilen.
    Aber etwas stand bevor.
    Oder war es schon geschehen? Etwas war geschehen, und sie konnte nicht sagen, was.
    Machte es einen Unterschied? Was in einer der Wirklichkeiten bereits geschehen war, stand vielleicht in einer andern noch bevor.
    Sie ballte die Hände zu lockeren Fäusten und trommelte leicht

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