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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Aber der Teich des Windes gefällt mir besser.«
    Von da an schwiegen sie für den Rest der Massage. Erst als Dr. Stahel vom Massagebett aufstand und sie ihm ein warmes Frottiertuch reichte, fragte sie: »Haben Sie die Kirchenglocke auch gehört, heute früh?«
    »Ja. Zuerst habe ich mich darüber gefreut, weil ich dachte, es sei mir zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder einmal gelungen, zu verschlafen. Aber dann fragte ich mich: Seit wann beginnt der Tag um zwölf?«
    »Sehen Sie mich nicht so an, das blüht Ihnen auch.«
    Sonia fühlte sich ertappt. Sie hatte sich beim Anblick der welken Frau Professor Kummer wirklich gefragt, ob sie auch einmal so aussehen würde. Sie standen sich gegenüber, beide bis zu den Hüften im warmen Wasser, und Sonia überlegte sich eine erste Übung. Es war eine ganze Weile her, seit sie das gemacht hatte. Aber Wassergymnastik war Teil des Wellness-Angebots, und Sonia die einzige, die frei war.
    »Das heißt: Nur wenn Sie Glück haben, blüht Ihnen das auch. Nicht alle werden so alt wie ich.«
    »Als erstes gehen wir leicht in die Knie und stoßen uns ab.«
    »Als ich in Ihrem Alter war, sah ich auch so aus. Wie alt sind Sie? Mitte Dreißig?«
    »In die Knie und – abstoßen.«
    »Eher ein wenig straffer. Und mehr Busen.« Frau Professor Kummers Körper verschwand langsam bis zu den Schultern im Wasser und tauchte schnell bis zur Hüfte wieder auf, ohne daß ihr Mund zu reden aufhörte. »Und eine Tätowierung hatte ich natürlich auch nicht. Das hatten Frauen damals nicht. Oder nur eine bestimmte Art von Frauen.«
    »Und jetzt ein wenig tiefer.« Sonia ging gegen die Beckenmitte, die alte Frau folgte ihr, bis sie bis zum Hals im Wasser stand.
    »Und plötzlich ist es da, das Alter. Man steht vor dem Spiegel und fragt sich: Wann zum Teufel hat das angefangen? Sie werden es erleben. Vielleicht schon morgen nach dem Duschen.«
    »Auf ›Los!‹ rennen Sie, so schnell Sie können, zur andern Seite.«
    »Oder vielleicht schon heute, gleich nach der Gymnastik. Sie stehen vor dem Spiegel der Umkleidekabine, sehen diese kleinen Abschlaffungen an den Mundwinkeln und Oberarmen und fragen sich…«
    »Los!«
    Frau Professor Kummer kämpfte sich mit rudernden Armen zum andern Pool-Ufer hinüber, hielt sich am Rand fest und schaute zu Sonia. »Wann, werden Sie sich fragen«, stieß sie keuchend hervor, »wann bloß hat das angefangen?«
    »Und los!« befahl Sonia.
    Frau Professor Kummer löste sich vom Beckenrand und rannte auf Sonia zu. Das Phantom des Alters, runzlig und böse. In Zeitlupe, aber unausweichlich, unaufhaltsam.
    Und während Sonia gebannt auf die Ankunft und nächste Boshaftigkeit der Alten wartete, wurde ihr klar, was sie seit Dr. Stahels Massage irritiert hatte. Es war etwas, was er gesagt hatte: Seit wann beginnt der Tag um zwölf?
    Zwei Minuten später hatte sie die Wassergymnastik-Lektion mit Frau Professor Kummer beendet. Sie hatte zur Begründung nicht einmal einen Vorwand gesucht. »Weil Sie mir unsäglich auf die Nerven gehen«, mußte genügen.
    Ihr Gedächtnis hatte die acht Zeilen als Bild gespeichert. Aber trotzdem rannte sie im Bademantel die Treppe hinauf und öffnete das Sagenbuch. Die Bilder stimmten überein:
Wenn es Herbst wird im Sommer,
Wenn es Nacht wird am Tag,
Wenn die Glut brennt im Wasser,
Wenn es tagt beim zwölften Schlag.
Wenn zum Fisch wird der Vogel,
Wenn zum Mensch wird das Tier,
Wenn das Kreuz zieht nach Süden,
Erst dann gehörst du mir.
    »Wenn es tagt beim zwölften Schlag«, wiederholte sie leise.
    Jetzt klopfte ihr Herz nicht mehr wie nach zwei steilen Treppen. Jetzt raste es wie nach einem großen Schrecken.
    Hatte es nicht getagt beim zwölften Schlag? Und hatten die Leuchtstäbe im Pool nicht ausgesehen wie ein Unterwasserfeuer?
    Wenn die Glut brennt im Wasser!
    Pavarotti machte ein Spektakel, als spürte er, daß etwas nicht in Ordnung war. Sonia ging zum Käfig. Sie zog die Bodenschublade heraus, schüttete den Sand in den kleinen Abfalleimer, wusch sie mit heißem Wasser aus, füllte sie mit frischem Sand und schob sie wieder in den Käfig.
    Sie wechselte das Wasser im Trinkgefäß, füllte die Futterschale, steckte einen neuen Hirsekolben zwischen die Stäbe. Danach fand sie keine Ablenkung mehr.
    Wenn es Herbst wird im Sommer?
    Natürlich: der Ficus! Verliert alle Blätter, wie im Herbst.
    Sonia setzte sich an den Schreibtisch und zwang sich, tief und regelmäßig zu atmen. Sie wußte, daß auch die vierte Bedingung erfüllt sein

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