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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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alten Ziegenbock, der neben ihr stand und sie mit gelben Augen anstarrte.
Ursina graute, denn sie wußte, daß man vom Teufel nichts umsonst bekam. »Was ist dein Preis?« fragte sie mit bebender Stimme. Aber der Ziegenbock gab keine Antwort. Während der ganzen Alpung war von ihm außer einem gelegentlichen Meckern nichts zu vernehmen.
Aber noch in derselben Nacht taute der Schnee. Am nächsten Morgen schien die Sonne warm auf die Alp, und das Gras war saftig und grün. Und so blieb es den ganzen Sommer über. Im Herbst, als die Bauern Ursina und ihre Herde abholten, waren die Ziegen fett, und dreißig Laibchen Käse mußten zu Tal getragen werden. Ursina selbst war gesund und stark, ihre Zähne waren weiß, und ihr blondes Haar glänzte in der Sonne.
Bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr sömmerte Ursina die Ziegen auf Alp Dscheta, jedes Jahr ein paar mehr. So zufrieden waren die Bauern mit ihrer Arbeit, daß sie der Mutter zuerst einen ganzen, dann zwei und schließlich drei Gulden pro Sommer zahlten. Das Mädchen wuchs zu einer Schönheit heran, wie sie selbst die Ältesten im Tal noch nie gesehen hatten.
Aber zehn Tage vor ihrem neunten Alpsommer kam eine staubige Kutsche ins Dorf. Ihr einziger Passagier war ein vornehmer alter Herr. Er trug ein Gewand aus schwarzer Seide, einen silbernen Degen am Gürtel und eine rote Feder auf dem Hut. Er sprach italienisch und befahl, daß man Ursina hole, er müsse mit ihr sprechen.
»Wer seid Ihr?« fragte Ursina, sobald sie allein waren.
»Der Teufel von Mailand hilft besser als der Heiland.«
Ursina erbebte, als sie die Worte hörte, die sie damals in jener kalten Nacht auf Alp Dscheta aus dem Mund des alten Ziegenbocks vernommen hatte. »So wollt Ihr also Euren Preis eintreiben?« stammelte sie.
»Oh, nein«, antwortete der Teufel, »was du bis jetzt von mir bekommen hast, kostet nichts. Erst wenn du mehr willst, hat es seinen Preis.«
»Was mehr könnte ich wollen?«
»Unvergleichliche Schönheit, ewige Jugend, Reichtum, Glück und ein Schloß mit hundert Fenstern und dreißig Türmen.«
Ursina, die jung und durch das Ansehen, das sie durch ihre Schönheit und ihre Arbeit als Hirtin bei den Bauern genoß, auch ein wenig keck geworden war, fragte: »Und was ist Ihr Preis, Teufel von Mailand?«
»Der gleiche wie immer, Ursina: deine Seele.«
Das Mädchen lachte: »Zu hoch, der Preis. Viel zu hoch.«
Der Teufel lächelte. »Bevor du ablehnst, hör die Conditionen.«
Und er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr diese Worte ins Ohr:
»Wenn es Herbst wird im Sommer,
Wenn es Nacht wird am Tag,
Wenn die Glut brennt im Wasser,
Wenn es tagt beim zwölften Schlag.
Wenn zum Fisch wird der Vogel,
Wenn zum Mensch wird das Tier,
Wenn das Kreuz zieht nach Süden,
Erst dann gehörst du mir.«
Dreimal ließ Ursina den Teufel die Bedingungen wiederholen, bis sie ganz sicher war, daß sie sie richtig verstanden hatte. Dann schlug sie ein.
Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter, ihren Geschwistern, dem Dorf und den Ziegen und stieg in die Kutsche. Noch ehe sie am Ziel angekommen waren, hatte sich ihre Schönheit vervielfacht. Überall, wo die Kutsche Rast machte, wurde sie von Menschen umringt, die auch einmal etwas so Schönes wie die junge Ursina erblicken wollten.
Das Schloß lag auf einem Hügel hoch über einem fruchtbaren Tal und besaß wirklich hundert Fenster und dreißig Türme mit Dächern aus purem Gold.
Der Teufel von Mailand ließ Ursina in Frieden. Nur einmal im Jahr kam er sie besuchen. Dann ließ sie ein Festmahl auftragen und zum Tanz aufspielen. Der Teufel hatte vollendete Manieren, und nie sprach er vom vereinbarten Preis.
Bis eines Tages an einem herrlichen Tag im Juli…
    Der Text hatte das Ende der Seite zweiundachtzig erreicht, und so, wie er auf der gegenüberliegenden Seite weiterging, ergab er keinen Sinn:
…und von weit her sah man den Schein der Flammen im Nachthimmel über dem Tal.
    Sonia kontrollierte die Seitenzahlen. Der Text war von Seite zweiundachtzig auf fünfundachtzig gesprungen. Das Blatt dazwischen fehlte.
…und von weit her sah man den Schein der Flammen im Nachthimmel über dem Tal. Als am nächsten Morgen die Leute aus dem Dorf in den rauchenden Trümmern des Schlosses stocherten, fanden sie von Ursina nichts mehr als das Geschmeide, das sie in jener Nacht für ihren Liebhaber getragen hatte.
Aber wenn manchmal im Hochsommer das Wetter wechselte und es hinunterschneite bis unter die Maiensäße, dann hoben die Leute in den Dörfern ihre Blicke

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