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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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mußte. Sie wußte nur noch nicht, wie. Aber sie spürte, daß sie es in den nächsten paar Sekunden erkennen würde.
    Wenn es Nacht wird am Tag!
    Es war, als hätte ihr jemand einen Eiswürfel in den Rückenausschnitt gesteckt. Ein eisiges Kribbeln breitete sich vom Nacken über den ganzen Rücken und die Rückseiten der Oberarme aus.
    Casutt! Der Nachtportier, der mitten am Tag seinen Dienst antritt! Wenn es Nacht wird am Tag.
    Sonia stand auf, schob den Stuhl vor den Schrank, stellte sich darauf, nahm einen der leeren Koffer herunter und warf ihn aufs Bett. In einer Seitentasche mit Reißverschluß steckte das noch versiegelte Päckchen Zigaretten, das sie zum bewußten Nichtrauchen gekauft hatte. Es waren Mentholzigaretten. Sie schälte das Cellophan weg, riß das Päckchen auf und fingerte eine Zigarette heraus. Im Badezimmer fand sie Streichhölzer. Sie lagen auf dem Sockel des Kerzenständers, den sie für den Fall eines Stromausfalls bereitgestellt hatte.
    Sie brauchte drei, bis die Zigarette brannte.
    Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Sonia schrak zusammen und hob ab. Es war Michelle von der Rezeption.
    »Bist du o. k.?«
    »Ja, wieso?«
    »Ich habe gesehen, wie du die Treppe hinaufgerannt bist.«
    »Es geht schon wieder.«
    »Barbara möchte dich sprechen. Im Büro. Gleich.«
    In der Lobby saß Frau Professor Kummer im Bademantel in einem Ohrenfauteuil und schaute triumphierend zu, wie Sonia an die Tür mit dem Schild »Direktion« klopfte.
    Barbara Peters erwartete sie hinter ihrem Bildschirm. Sie trug zu Ehren des ersten Sommertags ein Top mit Spaghettiträgern. Ihre sanft gerundeten Schultern hatten einen matten Bernsteinglanz, die Salzfäßchen auf beiden Seiten ihres Halses sahen aus wie die Abdrücke, die schwere Schmuckstücke in weich ausgepolsterten Schatullen hinterlassen.
    Sie deutete auf den Stuhl ihr gegenüber und wartete, bis Sonia sich gesetzt hatte. »Frau Professor Kummer sagt, Sie hätten sie während der Wassergymnastik im Pool stehenlassen, weil sie – ich zitiere – ›Ihnen unsäglich auf die Nerven gehe‹. Stimmt das?«
    Sonia nickte.
    »Das haben Sie wirklich gesagt? ›Sie gehen mir unsäglich auf die Nerven‹?«
    Sonia versuchte, den Gesichtsausdruck ihrer Chefin zu interpretieren. War das Wut, die sich da gleich ihren Weg an dem formellen Lächeln vorbei bahnen würde? Oder Fassungslosigkeit? Oder Verachtung?
    »Ich fürchte, so etwas habe ich gesagt. Sinngemäß.«
    »Sinngemäß?«
    »Wörtlich.«
    Nur noch kurz dauerte der Widerstreit der Emotionen in dem schönen Gesicht. »Das kann ich überhaupt nicht billigen«, kicherte sie. »Was fällt Ihnen ein, Frau Professor Kummer gehört seit über zweihundert Jahren zu unserer Stammkundschaft, sie ist Trägerin des diamantenen Wassergymnastik-Abzeichens.«
    Sonia bedeutete ihr, still zu sein, die Frau Professor sitze vor der Tür. Aber Barbara Peters war hilflos gegenüber ihrem Lachanfall.
    Als sie sich davon erholt hatte, fragte sie: »Entschuldigen werden Sie sich wohl nicht wollen?«
    »Richtig.«
    »Aber ich darf sagen, Sie hätten einen strengen Verweis erhalten?«
    »Meinetwegen.«
    »Und Sie hätten versprochen, daß so etwas nicht mehr vorkommt?«
    »Nein. Das nicht.«
    Barbara Peters lächelte. »Aber tätlich werden Sie mir nicht.«
    »Nur zur Selbstverteidigung.«
    »Okay. Notwehr ist erlaubt. Auch auf dem Dienstleistungssektor.«
    Aus der Art, wie Barbara Peters sie anschaute, schloß Sonia, daß die Unterredung beendet war. Für Sonia war sie das noch nicht. »Heute um fünf hat die Kirchenglocke zwölf geschlagen.«
    »Ich habe davon gehört.«
    »Mich beunruhigt es.«
    »Daß die Kirchturmuhr spinnt? Sie sollten einmal sehen, in welchem Zustand die Wasserversorgung ist.«
    »Und die andern Vorkommnisse? Der Ficus? Casutts Auftauchen als Tagportier? Die Leuchtstäbe?«
    Barbara Peters sah sie überrascht an. »Ach, Sie glauben, Casutt war es auch, der die Glocke geläutet hat? Vielleicht haben Sie recht. Gut, daß wir den los sind.«
    Das hatte Sonia eigentlich nicht sagen wollen. Aber so leichthin von ihrer sorglosen Chefin ausgesprochen, klang es ganz einleuchtend.
    Sie stand auf und verabschiedete sich. Ohne die Frage gestellt zu haben, die ihr auf der Zunge lag: Kennen Sie die Sage vom Teufel von Mailand?
    »Ich kann nicht lesen, wenn mir jemand zuschaut. Es macht mich nervös.«
    Sonia hatte Manuel das Buch in den Personalraum gebracht und saß ihm gegenüber. »Also gut«, sagte sie, »ich mache

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