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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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einen Rundgang und komme zurück.«
    Der Korridor war leer. Sie öffnete die Tür zum ersten Behandlungsraum. Der Massagetisch war frisch bezogen, eine saubere Knierolle, zwei zusammengefaltete Badetücher und ein blütenweißes Kopfkissen lagen exakt ausgerichtet darauf. Das Licht war gedämpft, die Musik auch.
    Der nächste Behandlungsraum sah gleich aus, nur das Licht war hier gelb. Jeder der Räume besaß eine hinter einer Blende versteckte Lichtorgel, die, je nach Einstellung, die Decke in weißes oder farbiges Licht tauchte oder sie in wechselnden Farben pulsieren ließ.
    Im dritten Behandlungsraum stand Frau Felix mit dem Rücken zur Tür. Sie hatte die Arme ausgebreitet, den Kopf in den Nacken gelegt und murmelte beschwörende Sätze in einer Sprache, die Sonia nicht kannte. Die Lichtorgel lief. Frau Felix’ exzentrische Brille lag auf dem Massagetisch. Die dicken Gläser rafften das Licht zu Strahlenbündeln zusammen, die in allen Farben des Spektrums auf dem Leintuch tanzten.
    Sonia schloß leise die Tür.
    Die Dampf- und Luftbäder verströmten ihre Hitze für niemanden, und im Ruheraum spielten die Klangschalen für die Fische. Sonia ging die Treppe hinauf.
    Im Thermalbecken rauschte eine der Unterwasserdüsen. Ein Mann stand davor. Sonia erkannte den kurzgeschorenen Schädel von Bob und registrierte, daß ihr Herz einen winzigen Sprung gemacht hatte. Sie ging zu ihm und setzte sich auf die Liege, die dort stand.
    Bob verschränkte die Arme über dem Beckenrand und schaute zu ihr auf.
    »Heute um fünf hat es zwölf geschlagen«, sagte er.
    »Das habe ich auch gehört.«
    »Aber um vier nicht elf. Und um drei nicht zehn. Und um zwei nicht neun.«
    »So schlecht schläfst du?«
    »Letzte Nacht schon. Und du?«
    Sonia lächelte. »Ich habe auch schon besser geschlafen.«
    »Kommst du wieder in die Bar, heute abend?«
    »Wenn ich einen Platz finde.«
    Bob grinste und ließ sich ins Wasser gleiten. »Dann bis heute abend.«
    Sonia schaute ihm nach, wie er davonschwamm. Wie ein Pianist war er nicht gebaut. Obwohl: Er wäre ihr erster Pianist.
    Manuel las in seinem Maigret. Das Sagenbuch lag zugeklappt auf dem Tisch.
    »Und? Was sagst du?« fragte Sonia.
    »Daß zwei Seiten fehlen.«
    »Und sonst?«
    »Wie diese Sagen halt so sind.«
    Sonia schlug das Buch auf, hielt es ihm unter die Nase und las ihm die sieben Bedingungen vor.
    »Und da fällt dir nichts auf?«
    Manuel studierte seine Fingernägel. »Sag’s mir.«
    »Der Ficus verliert sein Laub im Sommer, der Nachtportier wird zum Tagportier, Leuchtstäbe glühen im Wasser, und die Kirchenglocke schlägt zwölf bei Sonnenaufgang. Jemand spielt diese Sage nach.«
    Manuel nahm ihr das Buch aus der Hand und las nach. Dann gab er es ihr zurück. »Ziemlich weit hergeholt.«
    »Findest du?« fragte sie interessiert. Sie war nicht unempfänglich für diese Sichtweise.
    »Ein vergifteter Gummibaum für ›Wenn es Herbst wird im Sommer‹? Ein seniler Nachtportier am Mittag für ›Wenn es Nacht wird am Tag‹? Eine Handvoll Party-Scherzartikel für ›Wenn die Glut brennt im Wasser‹? Und eine verstellte Kirchenglocke für ›Wenn es tagt beim zwölften Schlag‹?« Er legte das Buch beiseite. »Mädchen! Mach dich nicht verrückt!«
    An diesem Abend sah Sonia ihren ersten Sonnenuntergang in Val Grisch. Die Glastüren der Bar standen offen, und an den Tischen der Terrasse saßen die Gäste bei ihren Aperitifs. Sonia stand mit Manuel am Geländer und schaute zu, wie die Sonne die Wolkenfetzen in rosa Zuckerwatte verwandelte. Aus der Bar wehten Bobs leichthändige Läufe.
    Sonia trug ein schwarzes, etwas dekolletiertes Cocktailkleid von Donna Karan, das sich eine Hotel-Physiotherapeutin nicht leisten könnte, und hielt ein Glas Blue Curaçao in der Hand. Nicht der beste Sundowner, den sie kannte, aber zu Schwarz bestimmt der schönste.
    Bis heute hatte sie sich mit dieser Landschaft nicht anfreunden können. Die schroffe Bergkette auf der anderen Talseite mit ihrem Föhrenpelz, die über dem Dorf lauernden felsbeschlagenen Steilhänge, die verkitschten Engadinerhäuser in ihrer penetranten Selbstzufriedenheit.
    Aber das rötliche Licht dieses Abends nahm den Felsen die Härte, den Kämmen die Schärfe und den steilen Hängen das Bedrohliche. Sogar das Dorf schien so etwas wie Wärme auszustrahlen.
    Der Abend ließ auch die seltsamen Ereignisse der letzten Tage in einem viel freundlicheren Licht erscheinen. Bestimmt hatte Manuel recht, ihre Phantasie war mit ihr

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