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Der Teufel von New York

Der Teufel von New York

Titel: Der Teufel von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lyndsay Faye
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1845er Jahrgang alle irgendeinen Schaden haben. Wir sind quasi perforiert. Da gibt es etwas, das die Stadt uns noch nicht gegeben oder das sie uns genommen hat, einen Mangel, der bei jedem vonuns ein wenig anders aussieht. Uns allen fehlt so die ein oder andere Schraube. Und bei jedem von uns gibt es einen Riss, über den wir nicht wirklich hinwegsehen können.
    Ich war immer noch am Überlegen, wie ich meine eigenen unansehnlichen Wunden am besten verstecken und zugleich ignorieren könnte, als auf den Tag genau drei Wochen später das blutbesudelte Mädchen auftauchte. Sie zupfte an ihren Haaren wie eine fünfzigjährige irische Witwe, während das Mondlicht ihr Kleid in ein dumpfes Grau tauchte.
    Sie hieß Aibhilin ó Dálaigh. Das bedeutet »kleiner Vogel« – Bird Daly. Und sie sollte die Stadt schon bald völlig auf den Kopf stellen.
    Der einundzwanzigste August war zufällig auch der Tag, an dem wir das arme Baby fanden. Aber ich will nicht vorgreifen.

4
    In der Pike Street Nr. 50 befindet sich ein etwa zehn Quadratfuß großer und sieben Fuß hoher Keller, der nur ein sehr kleines Fenster und eine altmodische, schräge Kellerklappe hat. Dieser kleine Raum wurde noch vor kurzem von zwei Familien bewohnt, bestehend aus zehn Personen aller Altersstufen.
    Die sanitären Bedingungen der arbeitenden Bevölkerung
    von New York, Januar 1845.
    Mrs. Boehm war als Bäckerin natürlich gezwungen, jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, was sich bereits als ein Geschenk des Himmels erwiesen hatte, denn meine Zimmerwirtin war gern bereit, noch vor Tagesanbruch, um drei Uhr dreißig, an meine Tür zu klopfen. Der fahle Schein ihres Wachslichts fiel durch den Türspalt, ich rief »Guten Morgen!« und rollte mich mit einem Grunzen auf die Seite. So sah mein Alltag jetzt aus. Das honiggelbe Licht verschwand still die Stufen hinunter, während ich in der Finsternis kurz vor dem Morgengrauen den Gesichtsverband wechselte und die halbe Stunde kühler Luft auskostete, ehe die Sonne wieder alles verdarb.
    Jetzt werde ich mir mein Gesicht anschauen , dachte ich jeden Morgen, dabei besaß ich in Wahrheit nicht mal einen Spiegel. Nachmittags folgte dann der Gedanke: Warum hast du nicht vor irgendeinem Schaufenster einen verstohlenen Blick gewagt? Schließlich dröhnte die Stimme meines Bruders, Was bist du nur für ein Döskopp , und zwar jede Nacht, sobald ich meine Kerze ausblies, um erschöpft in tiefen Schlummer zu fallen. Die ganze Zeit hielt ich mir vor, dass mein Gesicht im großen Weltgeschehenein wirklich unwichtiger Faktor war. Meine Rippen waren letztendlich recht schnell verheilt, war es nicht besser, sich an die guten Nachrichten zu halten? Ich war so kräftig wie eh und je, obwohl ich mich noch nicht an die Müdigkeit gewöhnt hatte, die mir an den Knochen zerrte, weil ich immer geweckt wurde, noch bevor die Sonne die Lippen der Welt liebkost hatte. Auf die Schönheit kommt es nicht an , dachte ich dann. Oder aber: Ich bin kein eitler Mensch .
    Und ich wusste ja schon mehr als genug, nicht wahr? Sie können von Glück sagen , hörte ich den bucklichten, näselnden Doktor sagen, bevor ich Valentines Haus verließ, dass Sie das Auge nicht verloren haben . Wie es aussieht, wird der Schaden nicht die Bewegungen der Gesichtsmuskulatur in der regio orbitalis einschränken – die Narbenbildung wird großflächig verlaufen, aber die Muskeln des frontalis und der orbicularis oculi werden normal funktionieren. Ich wusste nun, was dieses ganze medizinische Kauderwelsch bedeutete, ich wusste, dass die Haut über dem rechten Auge, an der Schläfe und einem Drittel der Stirn bis in den Haaransatz hinein unaufhörlich brannte, und ich hatte sehr wohl wahrgenommen, was mein Bruder für ein Gesicht machte, wenn er glaubte, ich merkte nicht, dass er mich ansah. Ich wusste also nur zu gut Bescheid.
    Ehrlich gesagt, meine stoische Haltung war der reinste Bluff – beim Gedanken, mein Gesicht zu sehen, drehte es mir schlicht den Magen um. Es war die Vermeidungsstrategie eines Feiglings und nicht die Haltung eines schicksalsergebenen und phlegmatischen Überlebenden. Doch niemand, dem ich begegnete, kannte mich gut genug, um diese unangenehme Tatsache zu bemerken oder anzusprechen, also achtete ich weiter sorgfältig darauf, Val aus dem Weg zu gehen, und damit war es gut. Alles war gut.
    Am Morgen des einundzwanzigsten August bin ich zum ersten Mal gegen drei Uhr morgens wie durch einen sanften Schubs ganz von allein

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