Der Thron der roten Königin
in mir aufsteigen. Es heißt, sie habe große graue Augen, während meine Augen schlicht braun sind. Man erzählt sich, sie trage kostbare Flinder an ihrem hohen Hennin, mit dem sie gut zwei Meter groß zu sein scheint, und ich trage eine Haube wie eine Nonne. Man erzählt sich, sie habe Haar wie Gold, während meines braun ist wie die Mähne eines Ponys. Ich habe mich ganz der Religion gewidmet und führe ein spirituelles Leben, doch sie ist voller Eitelkeit. Ich bin so groß wie sie und schlank, weil ich an den Tagen der Heiligen faste. Ich bin stark und mutig, und das sollten Qualitäten sein, die ein Mann von Verstand in einer Frau suchen sollte. Denn seht: Ich kann lesen und schreiben, ich habe mehrere Übersetzungen aus dem Französischen angefertigt, ich lerne Latein und habe ein kleines Buch meiner eigenen Gebete zusammengestellt, die ich kopiert und in meinem Haushalt ausgeteilt habe – mit der Anweisung, sie am Morgen und am Abend zu beten. Es gibt nur wenige solche Frauen, ja, gibt es im ganzen Land eine zweite Frau, die solcherlei von sich behaupten kann? Ich bin eine hochintelligente, gebildete Frau aus königlicher Familie, von Gott für große Aufgaben ausersehen, von der Jungfrau Maria selbst geleitet. Und im Gebet höre ich die Stimme des Herrn.
Indes bin ich mir wohl bewusst, wie wenig solche Tugenden zählen in einer Welt, in der eine Frau wie die Königin wegen ihres reizenden Lächelns und der Fruchtbarkeit ihres mit Sahne gemästeten Leibes in den Himmel gepriesen wird. Ich bin eine nachdenkliche Frau, schmucklos und ehrgeizig. Und heute muss ich mich fragen, ob dies meinem neuen Gemahl genug ist. Ich weiß – wer sollte es besser wissen als ich, die ich mein ganzes Leben lang mit Missachtung gestraft wurde? –, dass geistiger Reichtum nicht viel zählt in dieser Welt.
Wir speisen in der Halle vor meinen Pächtern und Dienern, sodass wir uns erst unter vier Augen unterhalten können, als er nach dem Abendessen in meine Gemächer kommt. Meine Ladys und ich nähen, während wir einer Lesung aus der Bibel lauschen, als er hereinkommt und Platz nimmt, ohne sie zu unterbrechen, und mit gesenktem Kopf zuhört, bis sie zum Ende der Passage kommt. Er ist also ein frommer Mann oder hofft zumindest, als ein solcher durchzugehen. Dann bedeute ich meinen Ladys mit einem Nicken, sich zurückzuziehen, und wir setzen uns ans Feuer. Er wählt den Sessel, auf dem mein Gemahl Henry abends oft saß und mit mir plauderte und Walnüsse knackte, deren Schalen er ins Feuer warf, und für einen Augenblick empfinde ich überraschend von neuem den Verlust dieses ungezwungenen Mannes, der die Gabe der Unschuldigen besaß: glücklich zu sein in seinem kleinen Leben.
«Ich hoffe, ich werde Euch als Gemahlin gefallen», sage ich ruhig. «Ich dachte, es sei eine Übereinkunft, die uns beiden gleichermaßen dient.»
«Ich bin froh, dass Ihr darauf gekommen seid», sagt er höflich.
Ich zögere. «Ich gehe davon aus, meine Berater haben klargemacht, dass ich nicht die Absicht habe, leibliche Nachkommen aus unserer Ehe zur Welt zu bringen?»
Er blickt nicht zu mir auf, vielleicht habe ich ihn mit meinen offenen Worten in Verlegenheit gebracht. «Ich habe es so verstanden, dass die Ehe bindend ist, dass sie aber eine Josefsehe sein wird. Wir werden heute Nacht ein Bett teilen, um den Vertrag zu erfüllen, doch Ihr seid keusch wie eine Nonne?»
Ich schnappe nach Luft. «Ich hoffe, das ist akzeptabel für Euch?»
«Vollkommen», sagt er kalt.
Einen Augenblick betrachte ich sein abgewandtes Gesicht. Will ich wirklich, dass er sich so bereitwillig damit einverstanden erklärt, mein Gemahl zu werden, aber niemals mein Liebhaber? Elizabeth, die sechs Jahre ältere Königin, wird von ihrem Gemahl leidenschaftlich beschlafen. Jahr um Jahr bezeugt ein Kind seine Lust. Mit Henry Stafford, dessen seltene Intimitäten ich erduldet habe, war ich zwar unfruchtbar, aber vielleicht hätte ich mit diesem Gemahl noch eine Chance gehabt, denn schließlich ist er schon Vater. Wenn ich es nicht von vornherein ausgeschlossen hätte, noch bevor wir uns begegnet sind.
«Ich glaube, ich bin von Gott auserwählt, einem höheren Ziel zu dienen», erkläre ich, fast als suchte ich Streit. «Es ist sein Wille, dass ich darauf vorbereitet bin. Ich kann nicht gleichzeitig die Geliebte eines Mannes sein und die Dienerin Gottes.»
«Wie Ihr wünscht», sagt er, als sei es ihm gleichgültig.
Doch er soll verstehen, dass ich berufen bin. Aus
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