Der Thron der Welt
Warum habt Ihr mich nicht ohne Aufsehen seine Kehle durchschneiden lassen?»
«Denk daran, mit wem du sprichst», schnauzte Vallon. Die Inseln verloren sich in einem zunehmend trüben Dunst. Der Wind sang in den Wanten und peitschte Gischt aus den graugrünen Wellen. «Ich ernenne dich zum Segelmeister. Bereite das Schiff auf den Sturm vor.»
XXI
D er nahende Sturm trieb weißschäumende Wellenberge vor sich her. Raul gab Befehl, alles festzuzurren, was noch nicht gesichert war. Hero und Richard packten die Tongefäße in Stroh. Garrick und Wayland mühten sich mit der Vertäuung der Holzbalken. Die Balken waren in ein Holzgestell gelegt worden, aber Raul befürchtete, dass sie bei schwerer See verrutschen könnten, und wollte sie deshalb festgebunden haben.
Unten im Laderaum war es äußerst ungemütlich. Hero hörte, wie die Planken gegeneinanderarbeiteten und wie der Mast in seinem Sockel stöhnte. Jedes Mal, wenn ein Brecher an das Schiff lief, rechnete er damit, dass die Planken bersten und das Meer hereinströmen würde. Als die
Shearwater
aus dem Windschatten der Orkneys in die Dünung des offenen Atlantiks gesegelt war, kamen ihnen so hohe, langgezogene Wogen entgegen, dass es Hero bei jedem Eintauchen in ein Wellental den Magen hob. Die Mastspitze schwankte und zuckte nicht mehr einfach, sondern schwang in wilden Kreisen herum.
Hero stieg aus dem Laderaum an Deck. Sie jagten mit angerefftem Segel vor dem Wind dahin, und die Wellen schienen beinahe so hoch wie der Mast der
Shearwater
. Er ging bis zum Ruder, kämpfte um sein Gleichgewicht und stolperte über das schlüpfrige Deck gegen die Reling. Der Wind dröhnte so laut in der Takelung, dass er brüllen musste, um sich verständlich zu machen.
«Ich sehe kein Land mehr. Ich dachte, wir sollten an den Inseln entlangsegeln.»
«Der Wind dreht auf Süden», rief Raul. «Ich weiß nicht, bis wie weit nach Osten sich die Orkneys erstrecken. Wir dürfen uns nicht in den Windschatten einer Landzunge treiben lassen.»
Die
Shearwater
kippte ins nächste Wellental hinab und bohrte sich so tief in die Fluten, dass nur noch ein Fuß Abstand zwischen dem Wasser und dem Dollbord war. Schaumige Gischt wurde übers Deck geweht. Hero klammerte sich an eine Want. «Die Brecher werden uns überrollen.»
Raul schlug aufs Ruder. «Nein, werden sie nicht. Sieh doch mal, wie elegant die alte Dame auf ihnen reitet. Wir können sowieso nichts machen. Aber bind dich irgendwo fest, nur für den Fall.»
Hero verkroch sich zu Richard auf die Heckruderbank. Garrick schlang um jeden ein Tau und verknotete es durch eine Ruderpforte. Der Wind heulte im Tauwerk. Wie ein zusammengerolltes Tier nistete sich Angst in Heros Brust ein. Einmal warf ihn eine Welle von der Bank, von da an klammerte er sich an ihr fest. Er hatte das Gefühl, dass ihm jedes Mal, wenn sich das Deck hob, der Magen in die Füße rutschte, um ihm, wenn es sank, bis in die Kehle zu steigen. Richard kauerte neben ihm, gelbliche Fäden von Erbrochenem liefen über sein Kinn. Als es dunkel wurde, konnte Hero die ankommenden Wellen nicht mehr sehen, bevor sie aufs Schiff trafen, und musste vorausahnen, wann er sich festklammern sollte. Seine Hände waren zu Klauen erstarrt. Dann traf ein Brecher das Schiff breitseits und überschüttete ihn mit Wasser, sodass er keine Luft mehr bekam. Richard hängte sich an ihn.
«Wir sterben!»
«Mir egal!»
Eine Hand packte ihn an der Schulter. «Richard?», schrie Vallon.
«Ich bin Hero. Richard ist hier neben mir.»
«Brave Jungs. Wie kommt ihr klar?»
«Erbärmlich.»
«So ist’s recht.»
Mit einem Klaps auf Heros Schulter war Vallon verschwunden. Hero konnte sich nicht vorstellen, wie er die Nacht überstehen sollte. Nichts als Getöse und Dunkelheit, der brüllende Wind und die Sturzwellen. Irgendwann ließ ihn die schiere Gewalt der Elemente in eine Art Trance sinken, in der er seine Angst gedämpft wahrnahm und sein Verstand ausgeschaltet war.
Als er zum tausendsten Mal seine brennenden Augen hob, entdeckte er das erste milchige Grau der Morgendämmerung. Wie die Zahnreihen eines aufgerissenen Rachens stürzten sich die Schaumkronen der Wellen aus dem Dunkel herab, und Richards Gesicht war kaum mehr als ein verschwommener Umriss.
Immer noch jagten schwarze Wolkenfetzen über den Himmel, doch die Bewölkung lichtete sich. Die Sonne kam durch und tauchte das Schiff in fahles Licht. Hero drehte den Kopf von einer Seite auf die andere, um Sehnen zu lockern, die
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