Der Thron der Welt
neugierigen Blicken, deuteten auf Berge und Eiskappen und Fjorde. Dann tauchte die Sonne hinter den Horizont, und über den Himmel zogen verwaschene rosafarbene und lapislazuliblaue Streifen. Die Insel begann zu verschwimmen und schien wegzutreiben.
Vallon rieb sich über die Augen. «Was ist das?»
«Das Land verblasst», sagte Wayland.
Hero hielt ungläubig den Atem an, als sich seine Insel in Luft auflöste.
Richard seufzte. «Das war nur ein Trugbild. Eine Märcheninsel.»
«Aber sie muss echt sein. Wir alle haben sie gesehen.»
«Das Meer treibt seine Spielchen mit uns», sagte Raul. «Es zeigt uns, was wir sehen wollen.»
Hero war den Tränen nahe. «Aber warum kann ich sie dann jetzt nicht mehr sehen?»
Am folgenden Tag trieb die
Shearwater
ziellos unter einer dunstverhüllten Sonne dahin. Hero spielte lustlos eine Partie
Schatrandsch
mit Richard, als Raul schrie: «Wir haben einen Besucher!»
Alle blickten auf einen kleinen Vogel, der sich auf der Rah niedergelassen hatte.
Hero stand auf. «Woher ist er gekommen?»
«Er ist einfach aufgetaucht», sagte Raul. «Wayland hat bemerkt, dass der Hund wie der Fuchs in der Fabel zu ihm hinaufgestarrt hat.»
Der Vogel hatte einen rauchgrauen Rücken, eine schwarze Augenmaske und eine weiße Brust. «Ich habe solche Vögel in Sizilien gesehen», sagte Hero. «Sie müssen wohl für den Sommer nach Norden ziehen.»
«Lasst ihn nicht aus den Augen», sagte Vallon. «Stellt fest, in welche Richtung er fliegt.»
Der einsame Zugvogel hatte es mit dem Abflug nicht eilig. Er putzte sich, spreizte seine Schwanzfedern und begann zu zwitschern. Hero sah kaum noch richtig hin, als der Vogel einen scharfen, klickenden Ton von sich gab und wie ein Pfeil davonschoss.
«Pass auf, wohin er fliegt!»
Der Vogel war nur noch ein dunkler Fleck, als ihn Hero schließlich mit einem losen grauen Schwarm verschmelzen sah, der niedrig übers Meer zog.
«Raul, steuere auf denselben Kurs.»
«Ich habe nichts, das ich anpeilen könnte.»
«Versuch, dem Zugweg der Vögel zu folgen. Lass das Schiff nicht treiben.»
Hero hastete zu seinem Bündel und nahm den geheimnisvollen Richtungsfinder aus dem Kasten. Vorsichtig stellte er ihn auf eine Ruderbank. Die fischförmige Nadel wanderte über den Skalenkreis und blieb schließlich zitternd über einem Kreissegment stehen. Als Hero aufblickte, deuteten die Übrigen wie unsichere Schauspieler immer noch mit ausgestreckten Armen in die Richtung der verschwundenen Vögel. «Norden», rief er. «Die Vögel fliegen genau nach Norden.»
«Folgen wir ihnen», sagte Vallon.
Raul warf einen skeptischen Blick auf den Kompass. «Diesem Ding vertraust du?»
«Ich habe es erprobt, und es ist ein genauso sicherer Führer wie der Polarstern.»
Doch es gab keinen Wind an diesem Tag, und deshalb konnte Hero den Beweis für seine Behauptung nicht antreten. Die
Shearwater
trieb wie ein kleiner verirrter Stern um die Kompassnadel. Als es dunkel wurde, waren sie immer noch nicht klüger, wenn auch ein Büschel Seegras, das im Meer trieb, bedeuten konnte, dass Land in der Nähe war. Hero beugte sich im Licht einer Lampe über den Kompass, bis eine Brise aus Osten die Wolken vertrieb und den Polarstern beinahe an genau der Stelle enthüllte, die Heros Nadel anpeilte.
Er blieb die ganze Nacht wach, und schließlich erschien ein blassgelber Streifen am Osthimmel. Die Sonne ging auf, und Hero sah im Norden eine lange, niedrige Wolkenbank liegen.
«Könnte ein Zeichen für Land sein», sagte Vallon.
«Beten wir, dass es so ist», sagte Raul. «Wir haben beinahe nichts mehr zu essen.»
Sie segelten näher. Möwen tauchten auf und begleiteten das Schiff.
«Eis», sagte Raul. Er deutete auf einen kühlen Schimmer hoch oben in den Wolkenschwaden. «David hat gesagt, an der Südküste von Island gibt es einen riesigen Berg aus Eis. Wenn wir da sind, wo ich glaube, dass wir sind, müssen wir Kurs auf West nehmen. Dann müssten wir es heute noch zu ein paar Inseln schaffen.»
Sie fuhren um die nebelverhangene Küste. Wayland kletterte auf die Rah, um nach der nächsten Landmarke Ausschau zu halten, und am späten Nachmittag rief er, dass Inseln voraus seien. Eine nach der anderen tauchte aus dem Dunst auf – manche wirkten wie gedrungene Festungen, eine andere wie ein schlafender grüner Wal, und eine war ein hässlicher Hügel aus runzeliger Schlacke, von deren Flanken Rauch aufstieg.
Unter feinem Nieselregen nahmen sie Kurs auf die größte Insel,
Weitere Kostenlose Bücher