Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Thron der Welt

Der Thron der Welt

Titel: Der Thron der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Lyndon
Vom Netzwerk:
hervorbrachten, und beobachteten riesenhafte Eismassive, die donnernd ins Meer stürzten und dabei Wellen erzeugten, auf denen die
Shearwater
wild herumtanzte. Am nächsten Tag segelten sie in eine aufquellende, hyazinthfarbene Strömung, in und über der sich jedes einheimische Geschöpf einfand, ob es nun flog oder schwamm.
    Eine unheilvolle Wolke weit über dem Meer entpuppte sich als ein Schwarm Alkvögel von einer Meile Durchmesser, der wie eine rußige Böe an ihnen vorbeifegte. Wohin Wayland auch schaute, sah er Wale an die Wasseroberfläche kommen und Fontänen blasen. Der laute Widerhall, mit dem ihre Schwanzflossen aufs Wasser klatschten, ließ ihn ebenso wenig schlafen wie die Sonne, die auch um Mitternacht noch schien.
    Unter derselben Mitternachtssonne zogen Orkas, deren Rücken wie poliertes Mangan glänzten, vor dem Schiff ihre Kreise. Einer von ihnen stieß aus dem Ozean in die Höhe und drehte sich um sich selbst, bevor er mit lautem Klatschen wieder zurückfiel. Dann verschwand die Herde, und eine seidige Stille legte sich übers Meer. Syth stand neben Wayland im Bug, und er betrachtete sie, als sie sich eine sonnengebleichte Haarsträhne aus den Augen strich. Er stellte fest, dass ihre Augen die Farben des Meeres annahmen – Amethyst, Violett, Kobalt. Sie hatte zugenommen und war von einem Mädchen zur jungen Frau geworden. Er sammelte sich, um zu sprechen, ohne zu wissen, was er sagen würde – nur, dass es unwiderruflich wäre.
    Sie bemerkte seine Anspannung, stemmte die Hände auf die Hüften und zog zum Schein eine Schnute. «Was ist?»
    «Nichts», sagte er und meinte ‹alles›. «Ich bin froh, dass dein Haar wieder gewachsen ist. Damit siehst du … hübsch aus.» Er wand sich bei diesem lahmen Kompliment.
    Sie senkte den Blick, mit einem Mal so scheu, wie sie es tatsächlich war. «An dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, hast du gesagt, ich würde dich an jemanden erinnern. Aber du hast mir nie gesagt, an wen.»
    In Waylands Kopf kreisten die Gedanken, und er sagte einfach: «Meine Schwester.»
    Ihr Lächeln wirkte nun etwas verspannt. «Oh.»
    «Aber nur auf den ersten Blick.»
    Orm erlöste Wayland mit einem kräftigen Hieb zwischen die Schulterblätter. «Jetzt ist es nicht mehr weit.»
    Syth drehte sich, nun wieder ganz das Mädchen, eifrig um. «Und werden wir auch Schneebären sehen?»
    Orm lachte. «Das bezweifle ich, liebes Kind. Ich habe auf all meinen Fahrten erst drei zu Gesicht bekommen. Sie leben weiter nördlich.» Er wackelte mit den Augenbrauen. «Und das ist auch gut so. Sie sind größer als Ochsen und so stark, dass sie einen Seehund über ihre Schulter schleudern können. Und man sieht sie nicht kommen. Weißt du, warum?»
    Syth schüttelte den Kopf.
    «Sie verbringen ihr ganzes Leben im Schnee, und sie sind vollkommen weiß – abgesehen von ihrer schwarzen Nase. Wenn sie also eine Beute verfolgen, verbergen sie ihre Nasen mit den Pranken …», Orm führte es vor, «… und dann schleichen sie sich an, näher und immer näher …», Orm wand sich in einer Nachahmung dieser Jagdstrategie, «… bis sie dich in ihren Fängen haben, und dann – Brrr! Nein, sei lieber froh, dass du keine Bären sehen wirst.»
    Syth kicherte. «Das glaube ich Euch nicht. Dass die Bären ihre Nasen verstecken, meine ich.»
    «Warum, glaubst du denn, sind meine Augenbrauen so gesträubt? Das liegt an all den unglaublichen Dingen, die ich im Nordland schon gesehen habe. Hier oben ist es, als würde man in einem Tagtraum leben.»
    Darauf breitete sich eine heitere Stille aus. Das Segel der
Shearwater
sank zusammen und blähte sich wieder. Die Sonne berührte den niedrigsten Punkt auf ihrer endlosen Bahn.
    «Wo endet Grönland?», fragte Wayland schließlich.
    «In Nebel und Eis, am Abend der Welt und an ihrer Morgendämmerung, am Wohnsitz der Toten und am Reich der ersten Götter.»
    Wayland deutete mit dem Kopf in Richtung Westen. «Weißt du, was am anderen Ende des Meeres liegt?»
    Orm und er standen Schulter an Schulter. «Das tue ich, denn es gibt Männer, die zu meinen Lebzeiten dorthin gesegelt sind. Wir nennen es das Westland, aber man erreicht es nicht, indem man der Sonne folgt. Es ist dort zu viel Eis auf dem Meer. Man muss der Strömung nach Norden folgen, bis es nicht mehr weitergeht, und dann eine Meerenge nach Westen überqueren. Zuerst kommt man nach Slabland und Flatland, wo der Schnee im Sommer niemals schmilzt. Auf der Passage nach Süden kommt man

Weitere Kostenlose Bücher