Der Thron der Welt
Kampfaxt an den geschnitzten Drachenkopf auf dem Vordersteven.
«Den dort tötest du zuerst», sagte Vallon.
Raul spuckte aus. «Der wird nicht schwer zu treffen sein.»
Das Langschiff war nur noch eine Achtelmeile entfernt, als das Tageslicht versiegte. Die See verdunkelte sich, als hätte ein Geschöpf, das zu groß war, als dass man es sehen konnte, seinen Schatten über die Welt geworfen. Von dem Wikingerschiff drang der herausfordernden Klang eines Kriegshorns. Dann fuhr weniger als eine Meile entfernt ein Blitz senkrecht ins Meer und wurde von krachendem Donner gefolgt.
In einem oft eingeübten Manöver zog jeder zweite Wikinger seinen Riemen ins Schiff und stellte sich an der Reling auf. Einige hatten Bögen. Die anderen schwenkten Schwerter, Äxte und Speere. Zwei von ihnen ließen Enterhaken kreisen. Und alle trugen runde Holzschilde, deren Viertelsegmente rot und weiß bemalt waren.
Raul kniete sich neben Vallon und machte seine Armbrust bereit. Wayland stellte sich hinter ihm auf.
«Schießt nur, wenn ihr sicher treffen könnt.»
Mit Bewegungen, die in ihrer Bedächtigkeit beinahe rituell wirkten, setzte der riesenhafte Krieger im Bug einen kegelförmigen Helm auf, dessen Visier mit den schlitzförmigen Sichtöffnungen den Mann sofort in eine furchterregende Erscheinung verwandelte. Dann nahm er einen Schild in denselben Farben wie die der übrigen Mannschaft. Nur zwei der Wikinger trugen Kettenrüstungen.
Das Wasser zischte um den Bug des Langschiffs. Der Vordersteven mit dem Drachenkopf hob sich höher über die Wellen.
«Sie greifen auf steuerbord an», sagte Vallon.
Wayland senkte den Bogen. «Da. Draußen auf See. Da passiert irgendetwas.»
Zuerst konnte sich Vallon keinen Reim darauf machen. Der Horizont schien auszufasern, sich wie der Rand eines Büttenpapiers zu heben. Er hatte einmal gesehen, wie eine Schule jagender Wale das Meer zum Kochen gebracht hatte, und einen Moment lang dachte er, es seien solche Giganten, die dort einen Fischschwarm an die Oberfläche trieben.
«Gütiger Gott!»
Es war eine Welle – eine kochende Wasserwand, die auf das Langschiff zurollte. Einer der Wikinger stieß einen Warnruf aus, doch ihnen blieb keine Zeit zu reagieren. Die Welle traf gischtspritzend auf das Langschiff und wälzte sich weiter auf die
Shearwater
zu.
«Festhalten!», schrie Vallon und klammerte sich an den Vordersteven.
Der Brecher traf die
Shearwater
achteraus und riss sie mit solcher Gewalt herum, dass Vallon vom Steven weggeschleudert wurde. Er taumelte rückwärts, das Deck stellte sich unter seinen Füßen beinahe senkrecht, und dann trat er ins Leere, bevor er stürzte und irgendwo mit dem Kopf aufschlug. Hilflos rollte er herum, wurde gegen etwas Hartes geworfen und blieb keuchend und benommen liegen. Als er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, gelang es ihm nicht. Er lag kopfunter am Dollbord, das Wasser rauschte auf gleicher Höhe wie seine Ohren, und das Deck stieg beinahe senkrecht über ihm an. Die See hatte sie fast vollständig auf die Seite gelegt, und im nächsten Augenblick würden sie kentern. Erneut versuchte er sich aufzurichten, kämpfte wie jemand, der sich aus einem Zuber befreien will. Es gelang ihm, den Fuß auf das Dollbord zu setzen, und er stützte sich mit den Händen am Deck ab, um das Gleichgewicht zu halten. Über ihm heulte der Wind. Er bekam eine wild herumschlagende Want zu fassen und sah sich um. Wayland und Syth krümmten sich um eine Ruderbank. Hero und Richard hingen am Rahbalken. Beim Ruder erkannte er eine weitere Menschengestalt.
Der Wind legte sich so plötzlich, wie er aufgekommen war. Die kochende See beruhigte sich. Mit einem langen Seufzer und einem lauten Klatschen schwang die
Shearwater
zurück und fand schaukelnd in eine Schlagseite. Die Waren und der Ballast hatten sich verschoben. Vallon tastete nach der Beule an seinem Hinterkopf. Dann hielt er nach dem Langschiff Ausschau.
Es schwankte an Backbord auf den Wellen, kaum ein Fuß Freibord war noch über Wasser. Sein Mast stand gefährlich schief, und das Segel hing lose an der Rah, von oben bis unten zerrissen. Mehrere Besatzungsmitglieder waren über Bord gegangen, und zu ihrer Rettung wurde ein Beiboot ausgesetzt.
Vallon eilte zum Heck. Im Laderaum wieherte ein Pferd.
«Sind alle in Sicherheit?»
«Wir haben Vater Saxo verloren», keuchte Raul. «Keiner hat mitbekommen, wie er verschwunden ist.»
Vater Hilbert rannte von einer Reling zur anderen und rief nach seinem
Weitere Kostenlose Bücher