Der Thron der Welt
Gellende. Wenn man sie durchfährt, bebt man vor Angst, so schrecklich tost einem schon Die Unersättliche entgegen. Dort stürzt der Fluss mit der Geschwindigkeit eines durchgehenden Pferdes über zwölf Felsstufen hinab. Aber es bleibt keine Zeit, um zur Besinnung zu kommen. Man kann nur beten und auf Gott vertrauen. Tausende Seelen und all ihre Schätze liegen auf dem Grund der tiefen Sturzbecken. Wenn man es durch Die Unersättliche geschafft hat und an den gefährlichen Felsen danach vorbeigekommen ist, beschreibt der Fluss an einer Insel vorbei eine Kehre Richtung Westen. Dort darf man keinesfalls unaufmerksam werden. Und das Beten darf man auch nicht einstellen. Denn nun folgt Der Wellenkessel, mit schäumender Gischt, die viele Gefahren unsichtbar macht.» Igor wiegte sich mit geschlossenen Augen von einer Seite zur anderen. «Kaum hat man Gott gedankt, dass er einen verschont hat, ist man auch schon im Wachrüttler. Danach wendet sich der Fluss wieder nach Süden und fließt Die Siedende hinunter, die eine geringere Gefahr darstellt. Nun erwartet einen nur noch Die Schlange, die sich sechs Stufen hinabwindet, bevor sie sich in den Wolfsrachen stürzt.»
Igor schlug die Augen auf und leerte mit einem Zug seinen Weinbecher. Hero sah Vallon an und zog ein Gesicht. «Er sagt, wir haben eine stürmische Fahrt vor uns.»
«Frag ihn, wo sich die Kumanen auf die Lauer legen.»
«Unterhalb der Schlange, beim Wolfsrachen», antwortete Igor. «Dort ist der Fluss keinen Pfeilschuss mehr breit, und die berittenen Bogenschützen können ihre Pfeile ganz leicht von oben in die Schiffe richten. Wenn man diesen Angriff überlebt, bekommt man es an der Furt zwischen dem Ende der Schlucht und der Sankt-Gregors-Insel noch mit ihrer Hauptstreitkraft zu tun.»
Hero nippte an seinem Honigwein. «Habt ihr beide die Stromschnellen jemals im Dunkeln durchfahren?»
Igor schnaubte bloß. «Natürlich nicht.»
«Ist es möglich?»
«Nur ein Narr würde das versuchen.»
Hero lächelte. «Fyodor hat uns aber erzählt, du könntest die Stromschnellen im Schlaf hinunterfahren.»
Igor wandte den Blick ab. «Ja, im Sommer könnte ich den genauen Kurs mit geschlossenen Augen finden. Aber bei so niedrigem Wasserstand ist alles anders. Ein paar der Fahrrinnen sind trockengefallen, und andere sind nicht breiter als Eure Boote. Man kann keinen Faden im Dunkeln einfädeln.» Er äugte in seinen Becher. «Warum fragt Ihr danach?»
Hero schenkte ihnen Wein nach. «Weil die Kumanen wissen, dass wir hier sind.»
Die Lotsen erstarrten mit dem Becher auf halbem Weg zum Mund.
Hero trat einen Schritt auf sie zu. «Wayland hat sie auf dem Westufer entdeckt. Inzwischen reiten bestimmt ein paar von ihnen nach Süden, um einen Hinterhalt vorzubereiten. Wir müssen so bald wie möglich los und alle neun Stromschnellen heute Nacht bewältigen. Wir haben noch ein paar Stunden Tageslicht, und danach scheint der Mond.» Er sah Kolzak zu den Russen hinüberschauen. «Sagt ihnen nichts, bevor wir die zweite Stromschnelle hinter uns haben. Sagt, wir fahren noch ein Stück flussab, damit wir morgen besonders früh loskommen.»
Igor sagte etwas zu Kolzak, und sie begannen auf Russisch zu streiten. Sie steigerten sich in solche Erregung hinein, dass sich die Soldaten nach ihnen umdrehten. Igor wollte weglaufen, aber Kolzak hielt ihn zurück. Er verschränkte die Arme vor der Brust, sein Faltengesicht war wütend verzogen. «Igor weigert sich», sagte Kolzak. «Er riskiert lieber Fyodors Bestrafung, als sich dem sicheren Tod auszuliefern.»
Hero beugte sich vor. «Hört genau zu. Wir haben den Wikingern nichts von den Kumanen erzählt. Wenn wir es tun, glaubt ihr, dass sie euch dann nach Kiew flüchten lassen, während sie sich den Reiternomaden allein stellen müssen? Außerdem ist da noch das Silber, das wir für eure Dienste bezahlt haben. Vallon ist kein Mann, der über einen Vertragsbruch hinwegsieht.»
Igor schluchzte in seine Hände hinein. Kolzak sprach beruhigend auf ihn ein. Dann breitete er ergeben die Arme aus. «Gott verfluche Fyodor Antonovich. Seine Seele soll von einem Pestgeschwür zerfressen werden.»
Eine Handbreit stand die Sonne noch über dem Horizont, als der Schiffskonvoi auf die Schlucht in dem Felsmassiv zuhielt. Die beiden Galeeren fuhren an der Spitze, gefolgt von Vallons Leuten, die das Ersatzboot im Schlepptau hatten, und zuletzt kamen Drogo und die Isländer. Sie fuhren in die Schlucht, und die Sonne verschwand hinter
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