Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
Höhlenwänden wider. Das Einzige, was Hadrian sonst noch hörte, war das Wispern ferner Stimmen, so leise, dass er kein Wort verstehen konnte. Ob es Bewohner dieser Höhlenwelt waren, die sich hinter einer unsichtbaren Ecke unterhielten, oder nur irgendeine Gaukelei dieser Steinwelt, war nicht zu sagen.
Im Höhleninneren sahen sie weitere Soldaten an ihrem Weg Wache stehen, die meisten in der gleichen Uniform wie ihr Führer. Andere tiefer drinnen trugen schwarze Rüstungen mit dem schlichten weißen Emblem einer zerbrochenen Krone. Ihre Gesichter verdeckten bedrohlich aussehende Helme. Sie standen stramm und unbeweglich da, und keiner gab auch nur einen Laut von sich.
Hadrian fragte Myron nach dem Emblem, das diese Männer trugen.
»Es ist das Wappen des uralten Ordens der Seret-Ritter«, erklärte der Mönch leise. »Den gründete vor achthundert Jahren der Ritter Darius Seret, nachdem ihm Patriarch Linnev die Aufgabe übertragen hatte, den verschollenen Erben Novrons zu finden. Die zerbrochene Krone steht für das zerbrochene Imperium, das sie wiedererrichten wollten.«
Endlich schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Sie betraten eine ovale Höhlenkammer, deren gegenüberliegende Wand von einer unglaublich hohen Tür dominiert wurde. Ganz aus Stein, war die Tür umrahmt von einem glitzernden, spinnwebfeinen Liniengeflecht, das wie etwas Organisches wirkte. Wie Blattadern oder feine Wurzeln verästelte sich die kunstvolle Türumrandung nach außen hin und verschwand schließlich im Schattendunkel. Flankiert war dieTür von zwei imposanten Obelisken, bedeckt mit tief eingeschnittenen Runen. Zwischen Obelisk und Tür trug jeweils ein hoher Ständer ein Feuerbecken, aus dem blaue Flammen züngelten.
Ein Mann saß auf einem erhöhten Stuhl hinter einem sechs Fuß hohen steinernen Schreibtisch, den komplizierte Muster aus verschlungenen Linien zierten. Zu beiden Seiten des Schreibtisches brannten fassdicke, doppelt mannshohe Kerzen, an denen so viel geschmolzenes Wachs heruntergelaufen war, dass sie wohl einst so riesig gewesen sein mussten wie die Tür.
»Besucher«, meldete ihr Führer dem Mann hinter dem Schreibtisch, der bis eben mit einem schwarzen Federkiel etwas in ein mächtiges Buch geschrieben hatte, jetzt aber aufsah. Sein grauer Bart hing bis auf den Boden. Sein runzliges Gesicht hatte Ähnlichkeit mit der Borke eines sehr alten Baums.
»Wie sind eure Namen?«, fragte der Schreiber.
»Ich bin Alric Essendon, Sohn des Amrath Essendon, König von Melengar und Herrscher des Königreichs, und ich will den Gefangenen sprechen.«
»Und die da?« Der Schreiber deutete mit einer Handbewegung auf die übrigen.
»Das sind Bedienstete, die königlichen Protektoren und mein Kaplan.«
Der Schreiber stand auf und beugte sich vor, um sie genau zu mustern. Er sah jedem von ihnen ins Gesicht, ehe er sich wieder hinsetzte. Dann tauchte er den Federkiel ein und schlug eine neue Seite auf. Nachdem er kurz etwas hingeschrieben hatte, fragte er: »Warum wünscht Ihr den Gefangenen zu sehen?« Die Feder schreibbereit über dem Papier, wartete er auf Antwort.
»Meine Angelegenheiten gehen Euch nichts an«, antwortete Alric majestätisch.
»Das mag sein, aber dieser Gefangene ist meine Angelegenheit, und wenn Ihr etwas von ihm wollt, geht es mich etwas an. Ich muss den Zweck Eures Besuches wissen, sonst werde ich Euch keinen Zutritt gewähren, ob Ihr nun König seid oder nicht.«
Alric starrte den Schreiber eine ganze Weile grimmig an, gab aber schließlich nach. »Ich möchte ihm im Zusammenhang mit dem Tod meines Vaters einige Fragen stellen.«
Der Schreiber dachte darüber nach, kratzte dann mit dem Federkiel über die Seite des großen Buchs und sah anschließend auf. »Gut. Ihr dürft die Zelle betreten, müsst Euch aber an unsere Regeln halten. Sie dienen Eurer eigenen Sicherheit. Der Mann, mit dem Ihr zu sprechen wünscht, ist kein normaler Mensch. Er ist ein Etwas, eine uralte böse Kraft, ein Dämon, den wir hier erfolgreich festgesetzt haben. Unser oberstes Bestreben ist es, ihn in Gewahrsam zu halten. Wie Ihr Euch vielleicht denken könnt, ist er sehr erpicht darauf zu fliehen. Er ist listig und stellt uns beständig auf die Probe. Sucht immerzu nach einer Schwachstelle, einer Lücke der Bewachung oder einem Spalt im Stein.
Erstens, geht geradewegs zu seinem Haftquartier, säumt nicht. Zweitens, bleibt auf der Galerie, versucht nicht, in seinen Käfig hinabzusteigen. Drittens – und wichtigstens –
Weitere Kostenlose Bücher