Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
zahlreichen Pilgerpfade des Tals, sondern auch eine halbkreisförmige flache Stelle aus festgetretener Erde oberhalb einer schroffen Klippe. Die Pilger hatten den Landgottheiten an diesem Aussichtspunkt viele Jahrhunderte lang ihre Hochachtung bezeigt.
Noch bevor der Wagen stand, sprang der Lama bereits heraus, eilte mit langen, energisch wippenden Schritten zum Rand des Simses und breitete begeistert die Arme aus, als wolle er dem Berg um den Hals fallen. Shan verfolgte, wie er leise, vertrauensvolle Worte an den Gipfel richtete und danach jeden der vier Steinhaufen aufsuchte.
Heute war ein außergewöhnlich schöner Tag. Die Schneekappe des Berges schimmerte unter einem kobaltblauen Himmel,und seine Hänge waren in die Farben des Frühsommers getaucht. Beim Anblick des Lama verflüchtigten Shans Sorgen sich und wichen einer neuen Zufriedenheit. Sie hatten Jamyang nicht zum ersten Mal vor einer Entdeckung durch die Behörden bewahrt, aber so knapp wie heute war es noch nie gewesen. Und wie immer würde Lokesh ihm später erklären, dass es dem Lama nicht bestimmt sei, den Knochenfängern in die Hände zu fallen, und dass er und Shan von den Gottheiten erwählt worden seien, Jamyang zu retten, damit dieser seinem übergeordneten Schicksal gerecht werden und helfen könne, die alten Bräuche am Leben zu erhalten.
Shan pflückte einen Zweig Heidekraut und legte ihn auf den Steinhaufen neben Jamyang. Er war sich nicht sicher, ob der Lama ihn überhaupt bemerkt hatte, bis dieser plötzlich das Wort ergriff. »Ich habe mal etwas über das Alter des Planeten gelesen. Wir haben vier Milliarden Jahre benötigt, um dahin zu kommen, wo wir sind«, sagte er mit wehmütigem Lächeln.
Shan hatte den Lama sehr lieb gewonnen, seit er und Lokesh ihm vor Monaten begegnet waren, als er in einem der hohen Seitentäler eine mani -Mauer, entlang eines einsamen Pfades, wiederaufbaute. Jamyang war Ende fünfzig und somit einige Jahre älter als Shan, aber nicht annähernd so alt wie Lokesh. Wie viele der Lamas sprach auch er niemals über seine Vergangenheit, doch er war eindeutig hochgebildet, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der buddhistischen Schriften, sondern auch in Bezug auf Geschichte, Literatur und das Wesen der Welt. Shan wusste, dass sein alter Freund den Mönch mittlerweile als eine Art Brücke betrachtete, als einen der seltenen unabhängigen, unverdorbenen Lehrer, die noch eine Generation weiterleben würden, nachdem Lokesh und die anderen Vertreter des alten Tibet nicht mehr da waren. Jamyang schloss sich nie an, wenn die anderen vom Ende der Zeit sprachen.Er hegte immer noch Hoffnung, wusste Shan, wenngleich diese Saat in zahllosen anderen Tibetern allmählich vertrocknete und starb.
»Lokesh und ich klettern nachts bisweilen die Hänge hinauf, um einfach nur unter dem Himmel zu sitzen«, sagte Shan. »Letzten Monat haben wir Meteoritenschauer beobachtet. Sie schienen alle auf dem Yangon zu landen, als hätte der heilige Berg sie zu sich gerufen.«
Jamyang nickte. »Der Berg und seine Gottheit sind schon seit jeher da. Sie werden immer da sein, noch lange nach uns allen. Der Mensch kann das nicht ändern, oder?«
Shan musterte den Lama einen Moment lang; er war sich nicht sicher, ob er ihn richtig verstanden hatte. »Nein«, antwortete er zögernd, »das können wir nicht.« Er verfolgte schweigend, wie Jamyang zum Wagen ging und ein Kupferrohr holte, eines der Trompetenteile, die der Dieb gestohlen hatte. Der Lama entfernte einen Holzstöpsel und holte aus dem Rohr eine kleine verschnürte Stoffrolle hervor. Es war eine Leine mit selbstgefertigten Gebetsfahnen, eine jede versehen mit einem heiligen Bildnis und einer Inschrift von Jamyangs Hand. Er gab Shan das eine Ende. Sie spannten die Schnur wortlos zwischen zwei der Steinhaufen auf und klemmten die Enden unter den obersten Steinen fest. Ein jedes Flattern im Wind würde die Gebete erneuern.
Als sie fertig waren, nickte der Lama ihm dankbar zu und deutete dann auf eine Ansammlung zerfallender Gebäude in der Ferne, auf dem Grund des Haupttals. »An einem solchen Tag gibt es vermutlich Anzeichen für Besucher«, sagte er. Es dauerte einen Moment, bis Shan begriff, dass Jamyangs Tonfall fragend klang. Er holte sein Fernglas und richtete es auf die Ruinen. Die örtlichen Bauern und Hirten hatten vor einigen Monaten mit dem Wiederaufbau des uralten verlassenen Klosters begonnen. Sie opferten dafür ihre Mußestunden. Andere,wie Lokesh und Jamyang, arbeiteten dort
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