Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Volksrepublik möchtest du heute nicht schließen.«
Der Tibeter starrte Shan ein paar Herzschläge lang an, runzelte dann die Stirn und blickte verwirrt zu Jamyang, der eine Hand noch immer auf den Druckstöcken hatte und ihm mit der anderen die kleine bronzene dakini entgegenstreckte. Der Mann ließ die Bretter los, schnappte sich die Figur und stopfte sie sich in die Tasche, bevor er den Rest des Diebesguts auf die Ladefläche des Pick-ups legte. Nach einem Moment ging Lokesh ihm zur Hand, forderte den Dieb dann gutmütig auf, sich ebenfalls auf die Heckklappe zu setzen, und schob ihm das Hosenbein hoch, um den Knöchel zu untersuchen. Lokesh seufzte und schaute zu Shan. Der Mann mochte sich den Knöchel verstaucht haben, aber sein Bein war bereits von einem früheren, nicht richtig verheilten Bruch in Mitleidenschaft gezogen.
»Du brauchst eine Krücke«, stellte Jamyang fest und ließ den Blick über den Hang schweifen. Die nächstgelegenen Bäume befanden sich weit unten, entlang des Baches, der neben der neuen Siedlung verlief.
»Ich werde ihn fahren«, sagte Shan.
»Das wirst du natürlich nicht«, widersprach Lokesh prompt. »Du wirst Jamyang zurückbringen und mit der Feier beginnen. Auf der Straße sind es viele Kilometer bis in die Stadt, aber auf diesem Ziegenpfad ist es nur eine kurze Strecke. Ich werde seine Krücke sein und treffe euch dann später beim Schrein.«
Shan hatte kein gutes Gefühl dabei, aber er wusste, dass es aussichtslos war, mit dem alten Tibeter diskutieren zu wollen.»Hast du deine Papiere?«, fragte er seinen Freund. Die Polizei tauchte beunruhigend häufig im Tal auf und überprüfte doppelt und dreifach die Registrierungen, legte zum Teil sogar unerwartete Hinterhalte auf Nebenstrecken. Die Leute im Tal waren tief in der tibetischen Tradition verwurzelt, was sie für die Regierung automatisch verdächtig machte. Lokesh wies auf seine Hemdtasche und nickte, dann drückte er kurz das gau , das um seinen Hals hing, als wolle er auf die wahre Quelle seines Schutzes hinweisen.
Shan nickte zögernd. » Lha gyal lo . Wir erwarten dich noch vor dem Abendmahl.«
Der Hirte hob eine Hand, als Lokesh ihm auf die Beine half. Er griff in seine Tasche und streckte Jamyang die bronzene Göttin entgegen. »Nein«, sagte der Lama. »Ich habe sie dir aus freiem Willen gegeben. Heute ist ein glücklicher Tag.«
Das Gesicht des Diebes umwölkte sich. Er blieb stumm und starrte den Lama aus großen Augen an, während er mit einem Arm über Lokeshs Schultern davonhumpelte. Auch Shan war verblüfft. Die kleine dakini hatte zu den ältesten und kostbarsten Stücken aus Jamyangs Schrein gezählt.
Der Lama ging ohne ein weiteres Wort um den verbeulten Pick-up herum und nahm auf der Beifahrerseite Platz. Als Shan sich ans Steuer setzte, ließ Jamyang bereits mit befremdlicher Inbrunst seine Gebetskette durch die Finger gleiten und murmelte ein Mantra vor sich hin, eine lange, sich wiederholende Anrufung, die Shan nicht erkannte.
Das Schweigen zwischen ihnen war merkwürdig angespannt. Shan fragte sich, ob der Lama der Ansicht war, er hätte sich dem Dieb nicht in den Weg stellen sollen. Und ob ihm bewusst war, wie gefährlich es sein konnte, wenn ein solcher Mann den Ort kannte, an dem seine Hütte stand. »Dir ist nicht immer klar, wie riskant es ist«, rechtfertigte er sich.
Jamyang sah ihn an und neigte den Kopf, als hätten Shans Worte ihn überrascht. Ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht, und er fuhr sich mit der Hand durch das kurze schwarze Haar. »Dir ist nicht immer klar, wie riskant es ist«, wiederholte der Lama flüsternd und nahm dann sein Mantra wieder auf.
Nach einigen Minuten schien Jamyang sich zu entspannen, und als sie behutsam einem langen Sims folgten, hob er bedächtig eine Hand. Seine Stimme war leicht wie eine Feder. »Ich glaube, ich sollte Worte an euren Pilgerschreinen sprechen. Nur für einige Momente.«
Sie hatten eine scharfe Kurve am Ende einer der steilen Serpentinen erreicht. Von hier aus hatte man freie Sicht auf den Yangon, den heiligen Berg, der das lange Tal beherrschte, den majestätischen Gipfel, von dem es hieß, er verbinde die Einheimischen mit den alten Bräuchen und den alten schlafenden Gottheiten. Neben der Straße ragten vier Steinhaufen auf, die Lokesh und Shan wiederhergestellt hatten. Sie waren aus mani -Steinen errichtet, Steinen mit eingeritzten Gebeten, und markierten nicht nur den Schnittpunkt der Straße mit einem der
Weitere Kostenlose Bücher