Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
Wolf, der den Märchenhelden bittet, sein Essen mit ihm zu teilen, ein Bild für die verhungerte animalische Seite unseres Wesens, die nicht genug mitleben darf, die wir nicht genug achten, die sehr dankbar ist, wenn wir sie wahrnehmen und speisen. Tiere, mit denen man sein Essen teilt, die man ernährt, werden im Märchen immer gute Freunde; sie können sich im Lauf der Geschichte als lebensrettend erweisen.
Bleiben wir einen Moment beim Thema Ernährung. Im I Ging , dem chinesischen Weisheitsbuch, gibt es ein Hexagramm mit der Überschrift »Die Mundwinkel« bzw. »Die Ernährung«. Darin steht sinngemäß, man möge, wenn man jemanden beurteilen möchte, darauf achten, welchen Menschen er seine Pflege angedeihen lässt und welche Seiten seines eigenen Wesens er nährt. Das ist ein sehr interessanter Gedanke. Ernähren in diesem Sinne bedeutet mit Energie versorgen, mit Aufmerksamkeit versorgen, und man sollte sich selbst auch immer wieder fragen: Welche Anteile meines Wesens sind im Moment gut ernährt und welche nicht? Um ganz zu werden, müssen wir im Lauf des Lebens lernen, alle unsere inneren Götter und Göttinnen zu ernähren, ihnen einen Platz im Leben zu geben, denn wenn wir das nicht tun, wenn wir einen dieser Götter und Göttinnen unterversorgen, gibt es Probleme, wie mit der ausgesperrten dreizehnten Fee im Märchen, die beim großen Festmahl keinen Platz bekommt und sich dafür rächt. Das Horoskop stellt alle unsere Persönlichkeitsanteile dar, auch die unterversorgten.
Das Erdkühlein
Ein Märchen mit vielen Stiermotiven ist Das Erdkühlein . Schon der Name ist sehr passend, denn sowohl Erde als auch Kuh deuten auf das Motiv der nährenden Mütterlichkeit hin. Eigentlich wäre es logischer, das Tierkreiszeichen Stier in Kuh umzubenennen, da es als Erdzeichen dem Bereich des archetypisch Weiblichen zugehört.
In diesem Märchen gibt es ein kleines Mädchen, das eine böse Stiefmutter und eine böse ältere Schwester hat. Diese beiden verstoßen das Kind, aber es findet Zuflucht in einem kleinen Waldhaus, in dem das Erdkühlein lebt, und erfährt dort Heilung durch eine positive Form von Mütterlichkeit. Aufgrund der Intrigen von Mutter und Schwester wird das Erdkühlein zwar schließlich getötet, aber bevor es stirbt, sagt es seiner Schutzbefohlenen noch, sie solle bestimmte Teile seines Körpers nehmen und vergraben und dort, wo sie vergraben lägen, werde ein Apfelbaum wachsen, der ihr später dienlich sein würde. Und so geschieht es auch. Eines Tages kommt ein feiner Herr mit seinem todkranken Sohn vorbei, und dieser weiß: Wenn ich von den Früchten dieses Apfelbaums esse, werde ich geheilt. Man könnte auch sagen, er ist liebeskrank. Die ältere Schwester und die Mutter versuchen nun vergeblich, für ihn einen Apfel von diesem Baum zu pflücken, aber der Baum entzieht ihnen seine Äste immer wieder. Als jedoch das Mädchen zu dem Baum kommt, neigt er die Äste zu ihr hinunter, und sie kann die Liebesäpfel pflücken. Sie reicht sie dem jungen Prinzen, er wird gesund, und die beiden heiraten.
In diesem Märchen ist eine Botschaft enthalten, die in vielen Stier-betonten Geschichten steckt: Wenn die kleine Mutter dich nicht nährt, dann geh zur großen Mutter. Das heißt, wenn deine leibliche Mutter oder der Mutterleib deiner Familie nicht genug Nahrung und Liebe für dich haben, ganz gleich, weshalb, dann geh zur großen Mutter, zur Mutter Erde, Mutter Natur; sie nährt dich immer, ganz gleich, wo du bist und wer du bist. Dieser Weg ist der Weg zum Erdkühlein. Ich kenne viele entwurzelte, vernachlässigte Kinder, die sehr früh schon einen lebensrettenden Bezug zur Natur gefunden haben. In diesem Märchen ist auch ausgedrückt, dass dieser Weg zur großen Mutter stabilisieren kann, Seelennahrung und neuen Lebensmut gibt. So wie das kleine Mädchen sich wieder aus dem Waldhaus, aus der Zurückgezogenheit des Naturmenschen herauswagt, kann man sich dank des neu gewonnenen Vertrauens wieder auf Beziehungen einlassen, wieder liebesfähig werden, und mit dem Vertrauen findet man auch zur Erotik zurück. Dann kann man den Apfel pflücken und die Früchte dieses Entwicklungsweges, der durch den Wald geführt hat, auch mit einem anderen Menschen teilen.
Der gastliche Kalbskopf
Ein anderes Stier-Märchen ist Der gastliche Kalbskopf , aufgezeichnet von Ludwig Bechstein.
In diesem Märchen gibt es drei Söhne, die bei ihren Eltern leben. Eines Tages wollen die beiden älteren in die Welt
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