Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tierarzt kommt

Der Tierarzt kommt

Titel: Der Tierarzt kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
Vom Netzwerk:
provisorischen Verschlag, wo mein Patient stand.
    Es war nicht das zwei Wochen alte Kälbchen, das ich erwartet hatte, sondern ein kleines Tier von etwa sechs Monaten, schon fast ein Jungtier, aber nicht gut gewachsen. Es hatte alle Merkmale eines Kümmerlings – dürr, aufgetriebener Bauch und ausgefranstes, rötlich-graues Fell, das um den Leib schlotterte.
    »War schon immer ein armer Kerl«, brachte Mr. Sowden hustend und keuchend hervor. »Hat nie Fleisch angesetzt. Heut nachmittag hat der Regen mal aufgehört, und ich hab ihn rausgelassen, damit er frische Luft kriegt – und nun schaun Sie sich das an.«
    Ich stieg in den Verschlag, und während ich das Thermometer einführte, sah ich mir den kleinen Burschen genauer an. Er leistete keinerlei Widerstand, als ich ihn auf die Seite drängte; er starrte teilnahmslos mit gesenktem Kopf zu Boden, aber am schlimmsten war das tiefe Stöhnen, das er von sich gab. Es wiederholte sich alle paar Sekunden.
    »Es muß der Magen sein«, sagte ich. »Auf welcher Weide war er denn heute nachmittag?«
    »Hab ihn nur ein paar Stunden im Obstgarten gelassen.«
    »Aha.« Ich schaute auf das Thermometer. Die Temperatur war unter normal. »Da liegt wahrscheinlich allerhand Obst rum, was?«
    Mr. Sowden hatte einen Hustenanfall und lehnte sich danach an den Bretterverschlag, um Luft zu holen. »Ja, jede Menge Äpfel und Birnen. War ‘ne tolle Ernte dieses Jahr.«
    Ich hielt das Stethoskop über den Pansen, in dem es normalerweise sprudelt und rauscht, aber ich hörte überhaupt nichts. Ich tastete die Flanke ab und spürte die typische Fülle einer Magenverstopfung.
    »Mr. Sowden, meiner Meinung nach hat er den Bauch voller Obst, das er nicht verdauen kann. Es sieht böse aus.«
    Der Farmer zuckte die Schulter. »Wenn’s weiter nichts ist, geb ich ihm ‘ne gute Portion Leinsamenöl – dann wird’s schon wieder werden.«
    »Leider ist es aber nicht so einfach«, sagte ich. »Es ist ein schwerer Fall.«
    »Na, und was sollen wir da machen?« Er putzte sich die Nase und sah mich trübselig an.
    Ich zögerte. Es war bitterkalt in der Scheune, ich fröstelte und spürte ein Prickeln im Hals. Der Gedanke an Helen und das warme Zimmer war verführerisch. Aber ich hatte derartige Verstopfungen schon mehrere Male mit Abführmitteln zu kurieren versucht, und es hatte nie etwas genützt. Die Temperatur des Tieres sank rasch der tödlichen Grenze entgegen, und es hatte eingefallene Augen. Wenn ich nicht etwas Drastisches unternahm, war es am Morgen tot.
    »Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu retten«, sagte ich. »Und das ist ein Pansenschnitt.«
    »Ein was?«
    »Eine Operation. Ich muß ihm den ersten Magen aufschneiden und all das Zeug rausholen.«
    »Sind Sie sicher? Glauben Sie nicht, ein halber Liter Öl würde es schaffen? Das wär doch einfacher.«
    Allerdings. Einen Augenblick lang leuchtete das Bild Helens im warmen Zimmer wie eine freundliche Vision vor mir auf, aber dann schaute ich auf das Kalb. Hager, zottelig, unscheinbar – und so hilflos.
    »Ich bin ganz sicher, Mr. Sowden. Er ist so schwach, daß ich ihn mit örtlicher Betäubung operieren kann. Aber wir brauchen Hilfe.«
    Der Farmer nickte. »Gut. Ich geh ins Dorf und hole George Hindley.« Er hatte wieder einen schmerzhaften Hustenanfall. »Aber bei Gott, das hat mir heute nacht gerade noch gefehlt. Ich hab bestimmt Braunschitiß.«
    Braunschitiß war unter den hiesigen Farmern eine weitverbreitete Krankheit, und zweifellos hatte sie den armen Kerl am Wickel, aber mein Mitgefühl verflog im Nu, als er mit der Öllampe verschwand und mich im Dunkeln allein ließ.
    Es gibt viele Arten von Scheunen. Manche sind klein, behaglich und duften nach Heu, aber die hier war grausig. Ich war hier schon an sonnigen Nachmittagen gewesen, aber selbst dann umgaben einen die bröckligen Mauern und fauligen Balken wie ein naßkaltes Laken, und alle Wärme zog hinauf zu den dicken Spinnweben an den Deckenbalken. Man hätte diese Scheune allen Leuten, die sich Illusionen über das Landleben machen, zur Besichtigung empfehlen sollen. Sie war ein Paradebeispiel für die äußerst ungemütliche Schattenseite des Farmerdaseins.
    Jetzt hatte ich sie ganz für mich allein. Der Wind rüttelte am Tor, eisige Zugluft drang von allen Seiten auf mich ein, der Regen tropfte erbarmungslos durch die kaputten Dachziegel auf meinen Kopf und in meinen Nacken, und während die Minuten verstrichen, hüpfte ich von einem Bein auf das andere – ein

Weitere Kostenlose Bücher