Der Tigermann
die Abschaffung von Suttieh aufbegehrte? Die Frauen! Denn sie glauben, daß sie durch Suttieh ihre Männer in alle Ewigkeit halten könnten. Dafür ertragen sie die Flammen willig. Auch könnte die Stellung einer Witwe in einem Hinduhaushalt nicht schlimmer sein. Weil die Religion sie für tot erklärt hat, ist sie es auch. Niemand spricht mit ihr. Was sie zu essen bekommt, sind die Überreste, die niemand mehr mag. Es gibt wenige Witwen, die lange leben.«
Er seufzte tief, dann wurde sein Gesicht hart. »Ram Dass hat Ihnen von unserem Problem, dem Scheradmi, dem Tigermann, erzählt?«
»Nicht ausführlich. Er berichtete, daß ein Mädchen offenbar von einem Wertiger getötet…«
»Fünf Mädchen«, korrigierte ihn der Prinz. »Es gab vier weitere ähnliche Unglücksfälle, seit er nach England abreiste.«
»Und es könnte nicht sein, daß es sich tatsächlich um einen echten Tiger handelt? Einen Menschenfresser?«
»Unmöglich«, antwortete der Maharadscha bestimmt. »Mein Schikarchief, Major Grant, wird Ihnen morgen ausführlich berichten. Er ist vermutlich der beste Tigerjäger in ganz Indien. Im Moment befindet er sich am Tatort des letzten Unglücksfalls. Aber er rechnet nicht damit, daß der Mörder dorthin zurückkommt. Das hat er bisher noch nie getan. Die Verletzungen ähneln absolut nicht jenen, die ein echter Tiger zufügen würde. Gewöhnlich tötet ein Tiger, indem er das Genick des Opfers bricht und zwar entweder mit den Fängen oder seinen Vorderpranken. Diebedauernswerten Opfer hatten jedoch aufgerissene Kehlen. Und alle waren nackt. Alle waren vergewaltigt worden. Kein einziges war auch nur im entferntesten angefressen, nein, das ist nicht das Werk eines Tiers, eines echten Tiers.«
Eli Podgram nickte. Die Beschreibung paßte genau auf eine Kreatur aus der Schattenwelt.
»Morgen möchte ich mich an den Tatorten umsehen. Sind sie in Stadtnähe?«
»Alle. Keiner ist weiter als eine Stunde Fußmarsch entfernt. Ob Sie uns helfen können?«
»Ich habe Erfahrung mit ähnlichen Fällen«, sagte Eli ausweichend.
In diesem Augenblick betrat eine hochgewachsene Frau in goldfarbenem Sari das Zimmer. Sie legte ihre Hände zum Gruß zusammen und verbeugte sich vor dem Prinzen. Ihr schwarzes Haar wurde von einer goldenen Spange zusammengehalten, und in ihrem linken Nasenflügel glitzerte ein Brillant.
Der Maharadscha erhob sich gleichzeitig mit Eli – eine ungewöhnliche Höflichkeit in diesem Land.
»Meine Gemahlin«, erklärte er Eli. »Die Maharani Andra.«
Zärtlichkeit klang aus seiner Stimme, und Eli wußte nun, was zumindest zum Teil für seine Ablehnung von Suttieh verantwortlich war.
Der Priester Saiva machte sich auf den Weg zum Fluß, zu den Ghats, wo die Toten eingeäschert wurden.
Leichenverbrennungen waren nicht gerade traditionsgemäß Aber des Nachts gab es weniger ungebetene Beobachter als bei Tag.
Der Scheiterhaufen bestand aus Sandelholz, dessen starker Eigengeruch den Gestank des brennenden Fleisches überlagern würde. Das Sandelholz war ein untrügbares Zeichen, daß es sich bei dieser Kremation um die eines reichen Mannes handelte. Denn Sandelholz war teuer und wurde immer rarer.Der Scheiterhaufen war auf einer Plattform unmittelbar am Steilufer des Flusses errichtet. Sobald das Feuer erloschen war, wurden die Asche und Überreste zur endgültigen Reinigung in das Wasser gestoßen. Im Falle der Armen, die sich nur wenig Holz leisten konnten, waren es gewöhnlich mehr Überreste als Asche, auf die die riesigen Krokodile unterhalb der Ghats, der rituellen Ufertreppe, bereits warteten. Einige dieser Reptilien waren über sechs Meter lang und drei Tonnen schwer, aber aufgrund ihres Beitrags zur Beseitigung der sterblichen Überreste galten sie als heilig und durften nicht getötet werden.
Die Trauernden waren nicht zahlreich, doch kostbar gekleidet. Der Sohn des Verstorbenen war der’ Haupttrauernde.
Ein wenig abseits von den anderen stand die Stiefmutter des Jungen, kaum älter als er. Sie war in das Weiß der Trauer gehüllt. Ein unkontrollierbares Beben schüttelte ihren ganzen Körper.
Obwohl sie sich dagegen wehrte, schweiften ihre Augen immer wieder zu der Totenbahre, zur Leiche ihres Gatten – und zu dem Scheiterhaufen daneben.
»Nein!« kreischte sie plötzlich. »Nein! Nein! Ich kann es nicht. Nein! Nein! Nein!«
Die Verwandten ihres Mannes blickten sie schockiert an. Blindlings versuchte sie wegzulaufen.
Die stämmige Gestalt des Kalipriesters hielt sie
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