Der Tod auf dem Nil
schon, da war sie noch ein aufgewecktes kleines Ding, ungefähr so groß» – er streckte die Hand vor. «Ihr Vater und ich waren lebenslang befreundet. Ein äußerst bemerkenswerter Mann, Melhuish Ridgeway – und ein äußerst erfolgreicher.»
«Seine Tochter erbt ein beträchtliches Vermögen, wenn ich das richtig sehe… Oh, pardon – es ist vielleicht nicht sehr taktvoll, wenn ich das so sage.»
Andrew Pennington schien belustigt. «Ach, das ist doch allgemein bekannt. Ja, Linnet ist eine vermögende Frau.»
«Ich nehme an, der Börsenkrach jüngst hat aber Auswirkungen auf alle Aktien, so solide sie auch sein mögen?»
Pennington ließ sich einen Augenblick Zeit mit der Antwort. Schließlich sagte er: «Das stimmt natürlich bis zu einem gewissen Grad. Die Situation ist sehr schwierig dieser Tage.»
Poirot murmelte: «Ich könnte mir aber vorstellen, dass Madame Doyle einen scharfen Verstand in Geschäften hat.»
«So ist es. Ja, so ist es. Linnet ist ein kluges und praktisches Mädchen.»
Die Gruppe blieb stehen. Der Führer hielt einen Vortrag über den Tempel, den der große Ramses erbaut hatte; die vier kolossalen Ramsesskulpturen, ein Paar an jeder Seite des Eingangs aus dem Felsen gehauen, schauten hinab auf die kleine, durcheinander laufende Touristenschar.
Signor Richetti verschmähte die Belehrungen des Dolmetschers und untersuchte eifrig die Reliefs von schwarzen und syrischen Sklaven am Fuß der Kolosse zu beiden Seiten des Eingangs.
Im Innern des Tempels legte sich friedliches Halbdunkel über die kleine Gruppe. Die Reliefs an einigen der Wände in den noch immer lebhaften Farben wurden erklärt, aber die Besucher fingen schon an, sich in noch kleinere Grüppchen aufzuspalten. Dr. Bessner las mit wohltönender Stimme etwas Deutsches aus dem Baedeker und machte hin und wieder Pausen, um es für Cornelia zu übersetzen, die wissbegierig neben ihm ging. Lange sollte das jedoch nicht gut gehen. Miss Van Schuyler, die am Arm der phlegmatischen Miss Bowers hereingekommen war, kommandierte bald: «Cornelia, komm her», und damit war der Bildungsversuch notgedrungen vorbei.
Dr. Bessner sah ihr durch seine dicken Brillengläser wohlgefällig nach. «Ein sehr nettes kleines Fräulein», teilte er Poirot mit. «Sieht jedenfalls nicht so verhungert aus wie manche junge Frau heutzutage. Nein, hübsche Kurven hat sie. Hört auch sehr intelligent zu; ein Vergnügen, ihr etwas beizubringen.»
Poirot schoss durch den Kopf, dass es offenbar Cornelias Schicksal war, entweder geschurigelt oder belehrt zu werden. Jedenfalls war sie immer diejenige, die zuhörte, nie diejenige, die redete.
Die dank der herrisch herbeizitierten Cornelia kurzfristig entlastete Miss Bowers stand in der Mitte des Tempels und sah mit ihrem kühlen, gleichgültigen Blick um sich. Ihr Kommentar zu diesen Wundern der Vergangenheit war knapp: «Der Führer sagt, eine von diesen Göttern oder Göttinnen heißt Mut. Nicht zu fassen!»
Weiter innen gab es eine heilige Altarstätte mit vier sitzenden Figuren, die hier bis in alle Ewigkeit und in eigentümlich würdevoller Entrücktheit zu thronen schienen. Linnet und ihr Mann standen davor. Sie hatte ihren Arm in seinen gehängt, ihr Gesicht war nach oben gewandt – ein typisches Neue-Welt-Gesicht, intelligent, neugierig, unberührt von Vergangenem.
Simon sagte plötzlich: «Lass uns raus hier. Ich mag diese vier Burschen nicht – vor allem den mit dem hohen Hut.»
«Das ist Amun, glaube ich. Und der da ist Ramses. Warum magst du die denn nicht? Ich finde sie sehr beeindruckend.»
«Sie sind zu beeindruckend für eine verdammte Sehenswürdigkeit; irgendwie sind die mir nicht geheuer. Komm mit nach draußen in die Sonne.»
Linnet lachte, gab aber nach.
Draußen vor dem Tempel schien wirklich die Sonne und der Sand unter ihren Füßen war gelb und warm. Linnet fing wieder an zu lachen. Unten zu ihren Füßen, aufgereiht und auf den ersten Blick schauerlich anzusehen, weil scheinbar von den Körpern abgetrennt, waren ein halbes Dutzend Köpfe von nubischen Jungen. Sie wiegten sich augenrollend rhythmisch von einer Seite zur anderen und aus den Mündern ertönte eine neue Beschwörungsformel: «Hipp, hipp, hurra! Sehr gut, sehr schön. Vielen, vielen Dank.»
«Wie absurd! Wie machen die das denn? Haben die sich wirklich ganz tief eingegraben?»
Simon kramte ein bisschen Kleingeld hervor und parodierte sie: «Sehr gut, sehr schön, sehr teuer.»
Zwei kleine Jungen, die die
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