Der Tod auf dem Nil
«Vorführung» überwachten, nahmen die Münzen artig entgegen.
Linnet und Simon schlenderten weiter. Sie hatten keine Lust zurück an Bord zu gehen und sie hatten auch kein Interesse mehr an Sehenswürdigkeiten. Sie setzten sich in den Sand, lehnten sich an einen Felsen und ließen sich von der warmen Sonne braten.
Wie wunderbar Sonne ist, dachte Linnet. Wie warm – wie sicher… Wie wunderbar es ist, glücklich zu sein… Wie wunderbar, ich zu sein… ich… ich… Linnet… Die Augen fielen ihr zu. Sie trieb, halb schlafend, halb wach, dahin in einem Meer aus Gedanken, die wie der Sand dahintrieben und wirbelten.
Simons Augen waren offen. Auch in ihnen lag Zufriedenheit. Was für ein Narr er gewesen war, am ersten Abend die Nerven zu verlieren… Es gab nichts, weshalb man die Nerven verlieren musste… Es war alles in Ordnung… Es war schließlich Verlass auf Jackie…
Plötzlich gab es Geschrei – Leute kamen auf ihn zugerannt, händeringend – schreiend.
Einen Augenblick lang sah Simon sie verständnislos an. Dann sprang er auf die Füße und riss Linnet mit sich.
Keine Sekunde zu früh. Ein dicker Felsblock stürzte herab und krachte neben ihnen in den Sand. Wäre Linnet geblieben, wo sie war, sie wäre in Atome zerschmettert worden. Mit bleichen Gesichtern klammerten die beiden sich aneinander.
Hercule Poirot und Tim Allerton kamen herbeigerannt.
«Ma foi, Madame, das war knapp.»
Alle vier sahen unwillkürlich nach oben. Aber da war nichts zu sehen. Es gab jedoch einen Pfad entlang dem Felsplateau. Poirot erinnerte sich, ein paar Eingeborene dort gesehen zu haben, als die Gruppe von Bord gegangen war. Er betrachtete das Ehepaar. Linnet sah immer noch benommen aus – bestürzt.
Simon dagegen schien sprachlos vor Wut. «Der Teufel soll sie holen!», stieß er hervor und warf hastig einen prüfenden Blick auf Tim Allerton.
Der sagte: «Puh, das war aber knapp! Hat irgendein Idiot das Ding da hingerollt oder hat es sich von selbst gelöst?»
Linnet war kreidebleich und brachte nur mühsam hervor: «Ich glaube – irgendein Idiot muss das gemacht haben.»
«Hätte dich wohl zerschmettert wie eine Eierschale. Bist du sicher, dass du keinen Feind hast, Linnet?»
Linnet schluckte zweimal, fand aber keine Antwort auf den locker gemeinten Scherz.
«Kommen Sie mit zurück aufs Schiff, Madame», warf Poirot schnell dazwischen. «Sie brauchen etwas zum Stärken.»
Eilig gingen sie zurück, Simon voller unterdrücktem Zorn, Tim fröhlich plaudernd, um Linnets Gedanken von der Gefahr abzulenken, der sie gerade entgangen war, Poirot mit ernstem Gesicht. Als sie an der Gangway ankamen, blieb Simon wie vom Donner gerührt stehen. Dann nahm sein Gesicht einen Ausdruck des Erstaunens an.
Jacqueline de Bellefort wollte eben an Land gehen. Sie trug ein blaues Gingankleid und sah an diesem Morgen sehr kindisch aus.
«Lieber Gott!», flüsterte Simon. «Dann war es also doch ein Unfall.»
Der Ärger schwand aus seinem Gesicht. Die Erleichterung war so überwältigend deutlich zu sehen, dass Jacqueline den Eindruck hatte, irgendetwas lief hier schief.
«Guten Morgen», sagte sie rasch. «Ich fürchte, ich bin ein bisschen spät dran.» Dann grüßte sie alle mit einem Kopfnicken, ging von Bord und lief in Richtung Tempel.
Simon packte Poirots Arm. Die beiden anderen waren schon weg.
«Mein Gott, das ist eine Erleichterung. Ich dachte – ich dachte –»
Poirot nickte. «Ja, ja, ich weiß, was Sie dachten.» Trotzdem sah er noch immer ernst und besorgt aus. Er drehte den Kopf und registrierte sorgfältig, was der Rest der Reisegruppe so machte.
Miss Van Schuyler kam langsam und an Miss Bowers’ Arm zurück.
Etwas ferner stand Mrs. Allerton lachend vor der Reihe kleiner nubischer Köpfe. Mrs. Otterbourne war bei ihr.
Die anderen waren nirgends zu sehen.
Poirot schüttelte den Kopf und ging langsam hinter Simon her zurück an Bord.
Elftes Kapitel
« W ürden Sie mir, Madame, die Bedeutung des Wortes ‹Hoffart› erklären?»
Mrs. Allerton sah Poirot verwundert an. Beide quälten sich langsam den Felsen über dem zweiten Katarakt hinauf. Die meisten anderen hatten dazu Kamele genommen, aber Poirot erinnerten die Bewegungen eines Kamels an die von Schiffen. Mrs. Allerton hatte ihre persönliche Würde ins Feld geführt.
Sie waren am Vorabend in Wadi Halfa angekommen. Heute Morgen hatten zwei Barkassen die ganze Reisegruppe zum zweiten Katarakt gebracht, mit Ausnahme von Signor Richetti
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