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Der Tod bin ich

Der Tod bin ich

Titel: Der Tod bin ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bronski
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ganze Leben sammelte sich in einem Bild. Jugend und Alter, Liebe und Leid, die Ruhe der Rettachalm und das Rufen des Kuckucks, Senoner und der herabfallende Ast, der ihn traf – alles war gegenwärtig. Auch Bertold. Seine Wangen waren gerötet. Nach einem Spaziergang im Englischen Garten saßen sie zusammen und tranken Wein. Er erklärte, woran er arbeitete. Er hatte seine nüchterne Art abgelegt und war ins Schwärmen gekommen. Eine Weltformel beschreibe nicht nur, was sei, sondern auch das Kommende. Sie sei die Rezeptur eines Schöpfungsaktes, die alles enthalte, was überhaupt einmal Gestalt gewinnen könne. Das Wirkliche und das Mögliche, das Vergangene, das Gegenwärtige und Zukünftige – all diese Elemente lägen in ihr einträchtig aufgehoben. Unterschiedslos würden sie in einem großen Gedanken ausgedrückt. Da spürte sie schmerzhaft wirklich, aber unendlich verzögert, als habe sich das Geschehen durch zähe, gallertartige Zeitschichten hindurchzuarbeiten, wie sich eine Kugel seinem Hinterkopf näherte, auf das Schädelbein traf, es splittern ließ, durchschlug, im weichen Inneren seines Hirns an Geschwindigkeit verlor und schließlich stecken blieb.So hatte ihn der tödliche Schuss getroffen. Sie sah ihn im Sand liegen. Sein Blick verlor sich in einer feinkörnig hellen Fläche wie in einer weit gestreckten Wüste. Man erkannte darin zu Wellen aufgeworfene Dünen, die sich bis zum Horizont hin wanden. Auf ihrem Kamm zeichneten Wind und Hitze sich verwirbelnde, schlängelnde Erscheinungen. Auf der dem Wind abgewandten Flanke floss der Sand in lang gezogenen Rinnsalen herunter.
    Ihr war, als fasse jemand nach ihrer Hand. Das musste Bertold sein.
     
26.
    In meiner ganzen Ratlosigkeit hatte ich mich trübsinnig auf einem Steinblock niedergelassen. Als ich aufsah, traf mich der Blick einer Studentin mit blassem Gesicht und lockigen roten Haaren. Ich ergriff die Möglichkeit, die sich mir bot, ehe wir wieder zur Gleichgültigkeit von Passanten zurückkehrten, und sprach sie an.
    – Kannst du als Studentin jemanden mit auf das College-Gelände nehmen?
    – Klar, möchtest du das St. Matthew’s von innen sehen?
    – Ehrlich gesagt, habe ich ein Problem: Ich bin auf der Suche nach meiner Mutter. Eine Weile habe ich sie aus den Augen gelassen, schon war sie weg. Ich habe das Gefühl, dass sie da drinnen ist und die Orientierung verloren hat.
    – Ist sie verwirrt?
    – Manchmal. Jedenfalls mache ich mir Sorgen um sie.
    – Wir können zusammen hineingehen. Aber dort müsstest du dir selbst helfen, ich habe einen Termin bei meinem Professor.
    – Vielen Dank!
    Zunächst suchte ich den Square Court nach meiner Mutter ab. Dass sie eine der Studentenwohnungen oder ein Büro von College-Angestelltenbetreten hatte, war auszuschließen. Ich ging daher durch den Mitteltrakt hindurch in den Grey Friars’ Court. Aus der Kapelle hörte ich die Akkorde einer Musik, die mir bekannt vorkam. Ich eilte hinein und fand sie in der Ecke sitzend. Sie sah mich und legte den Finger auf den Mund. Dann umarmten wir uns.
    Kurz darauf war das Orgelspiel beendet, und ein älterer Herr stieg von der Empore herab. Er zeigte sich keineswegs erstaunt, meine Mutter und mich als Zuhörer gehabt zu haben, sondern begrüßte uns freundlich.
    – Ich bin David Ashton. Der Porter hat sie schon angemeldet, Frau Senoner.
    Wir gaben uns die Hand. Ich erinnerte mich, wie mein Vater ihn beschrieben hatte. Wir standen einem freundlichen alten Herrn gegenüber. Sein dichtes graues Haar war in akkuratem Scheitel nach rechts gelegt worden, nun bäumten sich einzelne Büschel auf. Unter seinem braun gemusterten Tweedjackett trug er eine leicht abgewetzte Strickweste. Alles an ihm verriet einen tadellosen Stil, den er früher einmal gehabt hatte. Inzwischen schien er von den alltäglichen Zwängen, sich jeden Morgen neu montieren zu müssen, überfordert. Fürsorgliche Anteilnahme kam in mir auf.
    Er lud uns in seine Wohnung ein, man könne sich dort bequemer unterhalten. Sie befinde sich gleich nebenan über der Master’s Lodge. Jede Tür, die er auf dem Weg dorthin aufgesperrt hatte, hielt er uns auf, bis wir passiert hatten. Ashton war auf eine altmodische Weise zuvorkommend und von einer kultivierten Höflichkeit.
    Die Wohnung allerdings befand sich in einem heillosen Zustand. Sie war zur Klause eines Wissenschaftlers heruntergekommen, muffig, dazu voller Bücherberge und Papierstapeln. Wie eine Insel waren Sessel, Sofa und Teetisch vor dem Kamin

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