Der Tod bin ich
die
Temple Lounge
.
Die
Temple Lounge
war eine gemütliche Gaststätte im englischen Stil. Vormittags wurde dort Frühstück serviert. Auf der Theke stand ein großes Glas mit jenen Zündholzbriefchen, die das Wappen des Lokals trugen. An der Wand hingen Fotografien von Studentengruppen verschiedener Jahrgänge, die die Lounge als Treffpunkt benutzten. Ich bestellte Tee und einen Muffin. In der fremden Umgebung verlor ich alle Zuversicht. Wie sollte ich vorgehen? Die Bilder nach Hinweisen absuchen? Den Wirt nach einem Schweizer Gast befragen?
Offenbar brauchte ich bei meinen Grübeleien einen Ankerpunkt. Jedenfalls kam mir plötzlich meine Mutter in den Sinn. Sie war mir ein Rätsel geworden. Ich war als der Sohn von Bauern aufgewachsen, nie hatte sie mir etwas aufgezeigt, das über unser Milieu hinausgewiesen hätte. Natürlich war sie als Besitzerin des Rettachhofs in unserer Gemeinde eine geachtete Person, die das Ihre auch gegen andere zu wahren wusste. Stolz, unabhängig und keinem Herrn verpflichtet, wie es bei uns in der Familie hieß. Ihre Entschlossenheit war mir neu. Beinahe hätte sie einen Physiker geheiratet und wäre womöglich in der Stadt geblieben, wenn sie vom Schicksal nicht genötigt worden wäre, den bereits eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen. Ich konnte nur mutmaßen, welche anderen, mir bislang verborgen gebliebenen Kräfte sie im Moment antrieben.
Aber der Gedanke an sie war nicht zufällig. Erst jetzt verstand ich, warum. Eine ältere Frau, die meiner Mutter ähnelte, ging über den Platz zum College. Nun stand sie vor dem eisenbewehrten Zugang in den Dimensionen eines Burgtors und sprach mit dem Porter. Es war die Art, wie sie ihre Tasche öffnete und ihm einen Zettel wies, die mich schlagartig sicher machte, dass es tatsächlich meine Mutter war. Ich sprang auf, legte Geld auf den Tisch und lief zum großen Tor hinüber. Sie war bereits im Inneren verschwunden.
Der Porter hob bedauernd die Hände. Dass das College zu dieser Tageszeit nur von Studenten, Bediensteten und Lehrpersonal betreten werden durfte, ging unmissverständlich aus den Hinweistafeln hervor. Ich konnte mich nur in der Nähe des Eingangs aufhalten, um sie abzupassen, wenn sie wieder herauskäme.
25.
Ella überquerte den Square Court und gelangte zum Mitteltrakt. Durch einen Gang erreichte sie den Schildern folgend den Grey Friars’ Court, der Fellows und Professoren vor allem Wohnraum bot. Dort wies ein Pfeil in Richtung Kapelle dem Besucher den Weg, dem einzigen öffentlich zugänglichen Bereich. Dieser zweite Innenhof musste in früheren Zeiten ein Kloster gewesen sein, jedenfalls war er von einem Kreuzgang umrahmt. Anders als zuvor war der Hof wie ein Garten gestaltet. In der Mitte plätscherte ein Brunnen, um den herum kunstvoll geschnittene Hecken liefen, Buchs und Berberitze vor allem, die sich wie ein Geflecht aus dicken Kordeln überkreuzten und verknoteten.
Die ungewöhnliche Gartenanlage des Grey Friars’ Court schuf ein Gefühl der Entrückung, schnitt einen von dem Getriebe draußen ab, aus dem man hierher gekommen war. Der Tag war immer noch grau und diesig, und der fortgeschrittene Herbst keine Zeit für Singvögel, aber Ella hätte schwören mögen, dass das Geplätscher des Brunnens im Hintergrund von Vogelgezwitscher durchsetzt war.
Sie durchschritt die erste Galerie, an deren Wand noch verwitterte Reliefreste einer Kreuzwegdarstellung auszumachen waren, und näherte sich der Kapelle, die man von der zweiten Galerie her betrat, da hörte sie ganz deutlich Musik. Zunächst schien sie noch gestaltlos aus den Ritzen des Gemäuers zu sickern, dann nahm sie Form an,und als sie schließlich vor dem Portal der Kapelle stand, war die Orgel brausend geworden.
Es waren nie gehörte Klänge, aber auf seltsam vertraute Weise gingen sie ihr nahe. Vorsichtig schob sie die Tür auf. Auf schachbrettartig ausgelegten bunten Steinfliesen betrat sie den schmalen Kirchenraum. Die Orgel tönte von der Empore direkt über ihr herab, seitlich war geschnitztes Chorgestühl aufgestellt, dessen Lehnen und Armteile ein Pandämonium aus Drachen, Adlern, Gewürm und sphinxartigen Gnomen zierte. Sie nahm einen Platz unter der Empore im Eck ein und lauschte andächtig der Musik.
Das Orgelspiel legte sich wie ein Schleier über sie und hüllte sie ein. Sie fühlte sich entrückt. Schließlich wurden ihre schweifenden Gedanken von einem Wirbel erfasst und strebten einem Zentrum zu, in dem sie sich verdichteten. Das
Weitere Kostenlose Bücher