Der Tod des Zauberers
Oberlicht einen Weg ins Zimmer gefunden hatte und in taumelnden Flugmanövern gegen den gelben Pergamentschirm der Schreibtischlampe rumpelte. Wildermuth ließ sich mit seiner Lektüre Zeit. Es mochte auch an meiner Handschrift liegen, daß er für die Durchsicht des Manuskriptes fast eine Viertelstunde brauchte. Mir kamen die Minuten wie Stunden vor, sie dehnten sich endlos, und ich wartete mit Ungeduld auf sein Zeichen, daß er die Lesung beendet habe. Er gab es mir, indem er die Brille, die er ohnehin nicht benutzt hatte, ablegte und sich wieder die überanstrengten Augen rieb.
»Also Textor!« sagte er und spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff.
»Ja«, nickte ich mit trockenem Mund, »Stephan Textor. Er hat mir dieses Geständnis heute nachmittag diktiert. Ich hätte nicht im wüstesten Traum daran gedacht, daß ich ihm solch einen Dienst erweisen müßte.«
»Wann hat er Ihnen sein Geständnis diktiert?« fragte Wildermuth. Er sah mich aus Augen an, über denen eine halbdurchsichtige Nickhaut zu liegen schien.
»Zwischen drei und fünf Uhr nachmittags.«
»Und was geschah dann?«
»Was sollte schon geschehen? Ich verabschiedete mich von ihm.«
»Ich meine etwas anderes«, unterbrach er mich. »Was wollte er mit seinem Nachsatz sagen, daß Sie diese Niederschrift >zu gegebener Zeit« der Kriminalpolizei übergeben sollen? Was heißt das: zu gegebener Zeit?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich kann Ihnen sagen, weshalb ich Ihnen die Papiere jetzt übergeben habe. Als ich nämlich Textor verließ, traf ich in der Klinik Textors Tochter Hansi.«
»Ah, jenes reizende Mädchen, dem ich in Pertach begegnet bin. Eine auffallend hübsche junge Dame.«
»Ja, das ist sie wohl. Jedenfalls berichtete sie mir, daß ihre Mutter am Vormittag verhaftet worden sei.«
»Jajaja«, machte Wildermuth mit verzogenem Gesicht, als hätte ich ihn mit meiner Bemerkung an einen peinlichen Mißgriff erinnert.
»Nachdem ich von dieser Verhaftung erfahren hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als Stephan Textor davon zu benachrichtigen.«
»Ah, ich verstehe! Und bei dieser Gelegenheit gab er Ihnen den Auftrag, mir die Papiere noch heute zu übergeben. Aber erklären Sie mir bitte, weshalb versteifte er sich auf diese merkwürdige Frist bis zehn Uhr abends? Sie läuteten mich doch schon vor sechs Uhr an, daß Sie mir gegen zehn Uhr eine wichtige Nachricht überbringen würden. Weshalb schickte er Sie nicht sofort zu mir?«
»Ich habe diese Verzögerung selber nicht recht verstanden. Textor bat mich, auf seinen Anruf zu warten und Ihnen die Papiere erst dann auszuhändigen, wenn sein Anruf durchgekommen sei.«
»Entschuldigen Sie, mein Lieber, aber dabei müssen Sie sich doch etwas gedacht haben«, murmelte Wildermuth und preßte seine Stirn mit den Fingerspitzen, daß die Haut sich zu zwei Wülsten zusammenschob, die eine scharfe Furche trennte.
»Ehrlich gesagt«, antwortete ich ihm zögernd, »habe ich zuerst den Verdacht gehabt, Stephan Textor wolle Zeit gewinnen, um sich — davonzumachen. Sie verstehen, was ich meine. Aber dann war es gerade sein Anruf zu so später Stunde, der mich in dieser Hinsicht beruhigte.«
»Wer hat Sie angerufen?« fragte er aufmerksam. »Wer und wann?«
»Schwester Mechthildis, seine Pflegerin; ihr Anruf kam vor einer Viertelstunde und auf Textors Veranlassung.«
»Und womit wollen Sie begründen, daß er ihr den Auftrag, Sie anzurufen, erst vor einer Viertelstunde und nicht schon am Nachmittag gegeben hat?«
Ich setzte das Glas ab und starrte ihn an.
»Um Gottes willen!« stieß ich hervor. »Wie kommen Sie auf diese Vermutung?«
Statt mir zu antworten, schob er mir sein Telefon herüber.
»Kennen Sie die Nummer der Klinik auswendig?«
Ich nickte und wählte mit fliegender Hast. Die Verbindung kam augenblicks zustande. Ich bat den Pförtner, der sich meldete, das Gespräch an Schwester Mechthildis oder, falls sie dienstfrei sei, an die Stationsschwester der chirurgischen Abteilung weiterzuleiten. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Schwester Mechthildis sich meldete. Ich nannte meinen Namen und wartete einen Augenblick, auf eine schlimme Nachricht gefaßt; aber außer ihrem ein wenig verwunderten: »Ja —bitte?« kam nichts. Wildermuth lauschte am zweiten Hörer. Er bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und wollte mir etwas zuflüstern, aber ich winkte ab, denn ich wußte, was ich zu tun hatte.
»Bitte, Schwester Mechthildis, wann hat Herr Textor Ihnen den Auftrag
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