Der Tod heilt alle Wunden: Kriminalroman (German Edition)
als Erstes aufsuchen? Die beiden Zeugen Dr. Feldenhammer und Schwester Sheldon – oder Andy Dalziel?
Die Vorschriften sahen vor, dass er als Ermittlungsleiter umgehend die Zeugen kontaktierte.
Aber Dalziel, obwohl krankgeschrieben, war nach wie vor sein Boss, und nachdem er sich nun seit einiger Zeit hier aufhielt, könnte er einige nützliche Hintergrundinformationen liefern …
Nein, streich das!
Das war lediglich eine Ausrede. Damit wollte er nur kaschieren, was ihm sehr wohl bewusst war – dass eines der Hörner dieses Dilemmas größer und schärfer war und sehr viel tiefer in ihn eindringen konnte als das andere; etwas, was ihm nur noch stärker bewusst wurde, je mehr Gefallen er an seiner Unabhängigkeit fand.
Während all der Jahre im Mid-Yorkshire CID hatte Pascoe sich daran gewöhnt, nur sich selbst und Dalziel gegenüber Rechenschaft schuldig zu sein. Die Abwesenheit des Dicken hatte eine große Lücke hinterlassen, die keiner der hochrangigen Beamten ausfüllen konnte. Anfangs war ihm das ständig bewusst gewesen. In den letzten Wochen jedoch hatte sich dieses Gefühl mehr und mehr gelegt, nicht, weil irgendjemand die Lücke ausgefüllt hätte, sondern weil er irgendwie in sie hineingewachsen war.
Irgendwann aber würde Vater Bär zurückkommen und Goldlöckchen aus seinem Bett rütteln. Das war der unvermeidliche Lauf der Dinge. Doch das lag noch in ferner Zukunft. Gegenwärtig war Dalziel ein Kollege auf Reha, der von bürokratischen Regularien und dem ärztlichen Regime außen vor gehalten wurde, und noch nicht ein großer Fall, der unglücklicherweise mitten auf seiner Schwelle detonierte, würde ihn dazu berechtigen, wieder seinen angestammten Platz einzunehmen.
Dilemma also gelöst. Berufliche Pflicht als Erstes, Krankenbesuch danach.
Die goldenen Tore des Avalon ragten vor ihm auf. Er drückte auf die Hupe. Aus einem Torwächterhäuschen erschien ein Mann, der die Tore öffnete und ihn durchwinkte.
Er hielt neben dem Wärter an und ließ die Scheibe hinunter.
»Detective Chief Inspector Pascoe, ich möchte zu Dr. Feldenhammer.«
Pascoe hörte, wie die Fondtür geöffnet wurde. Die Federung des Wagens ächzte unter dem plötzlichen Gewicht. Er sah in den Rückspiegel, obwohl er bereits wusste, wen er sehen würde. Es war noch immer ein Schock. Obwohl es keiner mehr sein sollte. Warum überließ Gott die wichtigen Entscheidungen den Sterblichen, wenn er sie doch so leicht selbst treffen könnte?
»Du hast dir Zeit gelassen«, erklang die allzu vertraute Stimme. »Okay, Stan, das ist der Bursche, von dem ich dir erzählt habe.«
»Gut, Mr. Dalziel. Wir sehen uns später.«
Der Torwärter winkte den Wagen voran.
Pascoe gehorchte.
»Hier links«, kommandierte der Dicke. »Genau, zum alten Haus.«
»Wo ich ohne Zweifel Dr. Feldenhammer finden werde«, sagte Pascoe, bemüht, wieder auf gleiche Augenhöhe zu kommen.
»Stell dich nicht so an. Der gute Lester kann warten. Außerdem hat er gerade Pet bei sich oben. Wahrscheinlich vergnügen sie sich ein bisschen miteinander. Übliche Reaktion auf traumatische Erlebnisse, so steht’s geschrieben.«
Das war der Punkt, an dem der Wagen anzuhalten und wieder die Herrschaft zu übernehmen war. Stattdessen hörte Pascoe nur sich selbst fragen: »Wo steht das geschrieben? Und wer ist Pet?«
»Pet Sheldon, Oberschwester. Und geschrieben steht’s in Katzenjammers eigenem Buch.
Posttraumatischer Stress – Wegweiser für Patienten.
Eingängiger Titel, was? Wahrscheinlich hast du den Film gesehen. Er hat mir ein Exemplar gegeben. Wette, er hat nicht geglaubt, dass ich’s lese, aber ich hab’s nur so durchgezogen, immer auf der Suche nach den schlüpfrigen Stellen. Hier parkst du!«
Pascoe hielt den Wagen an, ließ aber den Motor laufen. Er hatte sich entschieden. Bis hierher und nicht weiter.
»Sir …«, begann er, aber es war schon zu spät. Die Hintertür ging auf, und der Wagen seufzte vor Erleichterung auf, als der Dicke ausstieg und sich zum Haus aufmachte, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, ob er ihm folgte.
»Scheiße«, sagte Pascoe und stieg aus.
Sie überquerten eine Terrasse, wo einige wenige an runden schmiedeeisernen Tischchen saßen und Kaffee oder Wein tranken. Die frühe Abendluft war mild, das Unwetter hatte lediglich alles ein wenig aufgefrischt, kündete aber keineswegs vom Ende des Sommers. Die Patienten auf der Terrasse hätten Gäste in einer italienischen Villa sein können, die auf die Rückkehr des Duce
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