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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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Hoffnung war? Eine Verwechslung von Patientendaten - absurd! An eine lächerliche, trügerische Hoffnung hatte er sich geklammert.
Der Arzt war nachsichtig. Er äußerte Verständnis und nahm sich Zeit, um Marvin noch einmal zu erklären, was ein Glioblastom bedeutet und warum er hier war. Marvin hörte nicht zu. Er fühlte sich, als hätte man ihn mit dem erneuten Vorlesen der Diagnose nun endgültig zum Tode verurteilt. Keine Aussicht auf Berufung oder Revision. Er hatte schon verstanden, welcher ungebetene Untermieter in seinem Hirn nistete, auch ohne die Ausführungen des Arztes. Im Internet gab es genügend Informationen dazu. Zuerst hatte er es nicht gewollt – doch dann hatte er zu Hause nicht widerstehen können und nachgeforscht. Was man darüber lesen konnte, entmutigte genug, gleich hier aus dem Fenster zu springen. Glioblastom, WHO-Grad IV, Prognose sehr ungünstig, Rezidive regelmäßig, Überlebenszeit unter einem Jahr auch nach einer Therapie. Er hörte zu, wie der Arzt redete, mit einem Druck in seinem Hals, der ihm die Luft zum Atmen nahm.
Der Chefarzt ließ Marvin nicht allein und nicht zu Fuß zur Station zurückkehren. Er ließ ihn abholen, im Rollstuhl über die Krankenhausgänge schieben, wie jemanden, der zum Laufen keinen Boden mehr unter den Füßen hatte. Marvin fühlte sich so, als wäre genau heute sein letzter Tag auf Erden.
Im Zimmer angekommen fehlte sein Nachbarbett. Frederik war nach Hause gegangen. Auf eigenen Wunsch, wie man sagte. Jetzt könnte er endlich sein Einzelzimmer haben, er sollte sich freuen. Trotzdem wurde ein neues, sauberes Bett hineingeschoben. Der Rollstuhl blieb direkt im Raum, neben dem Gehwagen, der schon seit Langem in der Ecke stand. Frederik hatte es also wahr gemacht. Kein Versuch eines Kampfes. Er hatte aufgegeben, wollte zu Hause in Ruhe sterben, ohne Besucher, in den Armen einer ihn liebenden und pflegenden Frau. Marvin konnte sich nicht erinnern, Frederiks Frau gesehen zu haben, aber er stellte sie sich stark vor, voller Energie. Eine Frau, die bestimmt anpackte, wo es sein musste und Frederik in einem Rollstuhl hin und her schob, und die ihm etwas vorlas oder sich seine Geschichten anhörte.
Lisa war nicht stark. Als sie kam, um ihm ein paar Zeitschriften zu bringen – diesmal sogar eine politische Wochenzeitschrift - und seinen gelähmten Arm entdeckte, weinte sie sofort.
»Du hast doch gesagt, sie hätten deine Unterlagen verwechselt! Hast du denn nicht mit den Ärzten darüber gesprochen?«, warf sie ihm vor, als könnte ein Gespräch mit den Ärzten einen gelähmten Arm unwirklich machen.
»Die Sache mit der Verwechslung war Blödsinn. Hast du das etwa geglaubt?«
Er wusste, er war herzlos.
Lisa heulte. Bevor sie ging, trocknete sie ihre Tränen mit drei Taschentüchern. Sie färbten sich schwarz von zerlaufener Wimperntusche und ihr hübsches Gesicht bekam seltsame rote Streifen vom Reiben.
»Nächsten Monat habe ich Geburtstag und du liegst im Krankenhaus!«, schluchzte sie.
»Vielleicht komme ich ja schon nächste Woche nach Hause - bis zur nächsten Chemo.«
Sie schniefte. »Wirst du deine Haare verlieren?«
»Vielleicht!«
Lisa schminkte sich nach. Nach dem Abschiedskuss ging sie schnell, mit kleinen Schritten, ohne ihm noch einmal ihr verheultes Gesicht zu zeigen.
Marvin nahm die Fernbedienung und zappte müde und wahllos von Programm zu Programm, ohne hinzusehen. Er suchte keinen Film, den er anschauen wollte. Er wollte sich einfach nur berieseln lassen. Das Zimmer war zu leer.

Nach der schlaffen Lähmung des linken Armes stellte sich in den nächsten Tagen eine Spastik ein. Nie hätte Marvin gedacht, sein eigener Arm könnte ihm derartig hinderlich werden. Er machte einfach nicht, was Marvin wollte. Mit einer Hand, die ihm, gekrümmt, fast an der Hüfte klebte, ließ sich schlecht mit Messer und Gabel essen. Wie machten diese Betroffenen das nur? Zeitweise glaubte er, es wäre einfacher für ihn, gar keinen Arm auf dieser Seite zu besitzen. So aber wurde alles beschwerlich, das Essen, das Waschen, der Toilettengang, das Zappen und vor allem das Anziehen.
Marvin erinnerte sich an den Anblick von Behinderten, die ihm im Vorübergehen irgendwo begegnet waren; an Bahnhöfen etwa oder in der City, im Rollstuhl, auf Krücken, jedenfalls nicht in seinem Büro. Wenn man sie überhaupt sah. Gerade diejenigen mit den spastischen Lähmungen, die so auffallend steif liefen, waren ihm so fremd vorgekommen – so andersartig; als kämen sie aus einer

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