Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Welt, die ihn nichts anging. Menschen, die ihm auffielen, aber die er nicht anstarren wollte.
Jetzt war er plötzlich selbst einer von ihnen. Für andere sichtbar behindert. Nicht nur ein Mann, der hinkte oder ein wenig zu blass war. Nein, er war jemand, dessen Arm eigenartig anmutete. Jemand, dessen Augen man in der Menschenmenge ausweichen würde, weil man nicht wusste, wie man ihm begegnen sollte.
Gegen die Verkrampfungen bekam er etwas, doch die Wirkung reichte einfach nicht aus. Überhaupt bekam er so viele Medikamente, dass er meinte, seine gesamte Nahrung bestünde alleine aus ihnen. Der Magen dankte es ihm nicht – trotz der Magenschutztabletten. Da er massiv unter Übelkeit litt, sollte Marvin weiter im Krankenhaus bleiben.
Lisas Reaktion auf die Spastik machte es Marvin nicht leichter. Sie stöhnte auf, als sie ihn sah. Das könnte nicht sein, meinte sie völlig entsetzt, die Medikamente müssten das verursacht haben. Aufgebracht wollte sie herausrennen, um einen Arzt zu holen. Marvin rief sie zurück. Die Ärzte wüssten es, erklärte er. Sie täten ja alles – man musste eben Geduld haben. Diese Spastik sei nur vorübergehend.
Er log. Niemand hatte ihm das gesagt. Sie blieb im Zimmer, aber sie weinte wieder. Marvin wollte sie trösten und versuchte sie irgendwie zu umarmen. Doch die Berührung mit dem verkrampften Körperteil ertrug sie nicht. Sie zog ihre Arme an sich, wand sich aus seiner Umarmung, als wäre er ein Fremder, der sie zur Umarmung zwingen wollte.
»Das kann nicht sein! Gestern ging es dir noch viel besser. Das kann doch nicht so schnell gehen!«, sagte sie immer wieder. Er begann sich zu fühlen, als hätte er sich absichtlich so hergerichtet.
Marvin stellte fest, dass Lisas Besuche für ihn immer anstrengender wurden. Zwar freute er sich, sie zu sehen, aber seit er die Krankheit tatsächlich spürte und man sie ihm jetzt auch noch ansah, konnte er nur schwer die Hoffnung ausstrahlen, die Lisa brauchte. Ging sie nach Hause, konnte er sich erleichtert gehen lassen.
Dass seine Schwester mit seinem kleinen Neffen zu Besuch kam, hörte Marvin schon minutenlang, bevor sie überhaupt sein Zimmer fanden. Wo Tobias auftauchte, war Ruhe ein Fremdwort.
Seine Eltern, Ina und Carsten, öffneten dem kleinen Zappelphilipp die Tür. Marvin stützte sich einarmig im Bett auf, so gut es ging. Die Lebensfreude des Jungen war nicht zu bremsen. Er zögerte nur kurz, als er Marvin sah. Dann kam er ihm auf seinen kleinen Beinen entgegengerast, mit lachend geöffnetem Mund und einem weißen Gipsarm links. Dabei wehten seine dünnen blonden Haare wie Windspiele nach hinten.
»Hallo Tobias!«, sagte Marvin und streckte ihm die rechte Hand entgegen.
Der Kleine rammte mit seinem Oberkörper das Bett und machte das, was er immer tat, wenn er Marvin traf: Er drückte die hingehaltene Hand so fest er konnte, um Marvin zu zeigen, wie stark er schon wieder geworden war. Sein Gipsarm störte ihn dabei in keiner Weise. Marvin hatte es ihm beigebracht. Er selbst tat dann immer, als würden ihm die Finger zerquetscht und staunte für gewöhnlich unsagbar über die Stärke des Kindes. Es war ein beliebtes Spiel zwischen ihnen und brach jedes Mal sofort das Eis, wenn sie sich mal wieder längere Zeit nicht gesehen hatten. Diesmal brach die Nadel aus Marvins Handrücken und ihm selbst kamen fast die Tränen vor Schmerz.
»Aber Tobias. Nicht so stürmisch! Du tust Onkel Marvin noch weh!«
Seine Eltern ergriffen erschrocken die kleinen Hände, um Marvin zu befreien. Tobias lachte zwar noch, aber sah verunsichert zu seinen Eltern und dem Onkel auf. Da Marvin heute nur mit einem beweglichen Arm agieren konnte, bereitete es ihm Mühe, die Sache mit der Kanüle sauber zu lösen. Er konnte nicht verhindern, dass wieder einmal Blut die Bettdecke beschmutzte. Arme Schwester Sabine! Als Tobias das Blut sah, schrie er natürlich und das Chaos war perfekt.
Das war der erste Teil des Besuches. Der zweite begann nach der Säuberung des Bettes durch eine fluchende Schwester Sabine. Es dauerte gut fünfzehn Minuten.
Tobias und seine Eltern warteten in der Zwischenzeit vor der Zimmertür und starteten den zweiten Teil des Besuches mit einer neuen Begrüßung. Diesmal weigerte sich der Junge, die Hand zu geben und schob den Besucherstuhl geräuschvoll in die hinterste Ecke des Zimmers. Von dort aus verfolgte er dann das Zusammensein der Erwachsenen eine kurze Weile.
»Onkel Marvin sieht komisch aus!«, sagte er.
»Entschuldige, Marvin, wir
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