Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
ausgelöst. Die Schwestern zeigten sich nicht sehr beeindruckt. Sie hatten wohl schon Sensationelleres gesehen, versprachen aber, einem Arzt Bescheid zu sagen.
Als sie das Zimmer verlassen hatten, starrte Marvin seine schlaffe Hand an. Im Moment wusste er nicht, ob ihn mehr dieses gefühllose Körperteil beschäftigte oder die Erinnerung an die ungewollt intime Umarmung mit Schwester Sabine. Das musste doch vom Rücken kommen! Klar, dieses ungewohnte Herumliegen den gesamten Tag lang. Ein Bandscheibenvorfall bestimmt!
Bei der Morgenwäsche lernte Marvin, dass eine Hand, die man nicht benutzen konnte, nicht nur nutzlos, sondern auch störend war. Sie ließ sich zu nichts gebrauchen, nicht einmal zum Abstützen.
Kurze Zeit später lahmte der komplette linke Arm.
Die Ärztin verfügte für diesen Vormittag eine neue MRT! Aber nicht vom Rücken, sondern vom Kopf, was er für einen Fehler hielt.
Marvin kannte es bereits, das Gefühl auf der schmalen Liege – so allein mit sich und der Krankheit. Wie beim Röntgen gingen alle raus, nur er selbst blieb zurück. Beim MRT blieb der Raum im Gegensatz zum Röntgen hell. Dafür bekam Marvin eine Art riesiges Visier ums Gesicht gelegt. Doch er konnte nicht komplett hindurchsehen. Stattdessen sah er in einen Spiegel, in dem er - kurios - im Liegen, während er nach oben schaute, seine eigenen Beine sehen konnte. Ausgestreckt auf der Liege, mit einem Kissen unter den Kniekehlen - seine Beine in der Jogginghose. Weit hinter seinen Beinen, an der Wand, erkannte er ein Fenster, von dem aus die Schwestern und ein Arzt den Vorgang beobachteten; ähnlich wie bei einem Verhör. Nur konnte der Verhörte die Menschen hinter dem Fenster nicht sehen. Im Film jedenfalls war das so! Man verabreichte ihm ein Kontrastmittel. Für den Notfall gab ihm die Schwester einen Gummiball, der einen Druckknopf enthielt. Diesen sollte er drücken, wenn etwas wäre. Aber wirklich nur im Notfall, betonte sie. Makaber – sie drückte ihm den Gummiball in die taube Hand an seinem tauben Arm! Na klasse! Was sollte er von diesem Personal auch erwarten? Im Falle eines Falles wäre er also verloren. Schnell bekam er noch Kopfhörer über die Ohren gesetzt.
»Jetzt geht’s los!«
Man schob ihn samt Visier tief in die Röhre. Aus dem Kopfhörer erklang ein Ohrwurm – die Beatles – ›Yesterday‹. Er blickte in den Spiegel über sich und sah, wie sie das Zimmer verließ. Jetzt blieb er allein mit den Beatles.
Es dauerte nicht lange, dann ging es los, das Dröhnen und Klopfen, laut – trotz der Kopfhörer – so laut, dass es die Musik übertönte, gefolgt von einem tiefen summenden Signalton.
Während er so lag und zwangsweise den klopfenden Geräuschen lauschte, ersann er die Vorstellung, man würde ihn gleich mitsamt einer Weltraumkapsel ins All schießen. Lediglich das Gefühl der Beschleunigung fehlte. Marvin schloss die Augen. Nur nicht bewegen, damit die Aufnahmen nicht verwackelten. Die Maschine zog ihr Programm durch. Tacktacktacktack - säuberlich, unaufhörlich, schnitt sie seinen Kopf in virtuelle Scheiben. Von oben, von hinten, von der Seite. Natürlich verspürte Marvin genau jetzt den unwiderstehlichen Drang, seinen Kopf zu bewegen. Eine Missempfindung an der Stirn reizte ihn dazu. Jedoch unmöglich, sich jetzt zu kratzen. Es war kaum auszuhalten. Aber er musste stillhalten! Jede Bewegung ein mögliches Artefakt, geeignet zur Fehldiagnose!
Irgendwann verstummte die Maschine. Landung! Wieder zurück vom Mond!
Nach ungefähr einer Minute, in der sich nichts rührte, traute sich Marvin, die Augen zu öffnen. Im Spiegel über sich sah er die Schwestern hinter dem Fenster in Bewegung. Ein Arzt, der hinter ihnen stand, gab Anweisungen, bevor er verschwand.
Inzwischen hätten sie ihn endlich aus dem einsamen Tunnel befreien können, fand er. Seine Hand, noch taub, fühlte den Notfallknopf nicht.
Endlich – sie kam! Man schob ihn raus. Erlösung! Schwindel beim Aufsetzen, dann raus aus dem Raum. Ein anderer Patient wartete bereits. Marvin sollte wieder zur Station zurücklaufen.
Nein, er wollte warten. Er wollte die Bilder sehen und sie erläutert bekommen.
»Es wird dauern!«
»Gut … ich warte!«
Marvin blieb stur. Er befürchtete, sie könnten seine Bilder verwechseln. Nach zehn Minuten drückten sie ihm eine CD in die Hand – für den Chefarzt. Er sollte sich dort bei der Sekretärin einen Termin geben lassen.
Marvin ging los, die CD mit den Bildern von seinem Kopf in der Hand. Sie waren doch
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