Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
hörte noch Rauschen ihrer Jacken, die sie von dem Besuchertisch nahmen und wie sie sich leise entfernten. Kaum draußen drang noch einmal die Stimme des Kindes zu ihm herein.
»Mama, wenn Onkel Marvin tot ist, kann ich dann seinen Rollstuhl haben?«
Marvin ließ die Augen zu. Er wollte gar nicht richtig wach werden. Er wollte den Besuch seiner Schwester als Traum in Erinnerung behalten.
Inzwischen bereute Marvin, dass so viele Menschen von seinem Krankenhausaufenthalt wussten. Er spielte mit dem Gedanken, dem Krankenhauspersonal strikte Anweisung zu geben, keinen Besuch mehr zu ihm durchzulassen – bis auf Lisa natürlich. Und Julia, seine Tochter aus dem entfernten Hamburg, die er sehr vermisste.
Dann tauchten Marietta und Jens auf, alte Freunde aus Studienzeiten. Zuerst wollte Marvin Schlaf vortäuschen, um sie gleich wieder loszuwerden. Noch mehr Menschen, die ihn an seinen drohenden Tod erinnern könnten, wollte er nicht treffen. Doch dann dachte er an die vergangenen Jahre der Freundschaft zu den beiden. Es war schon eine Weile her, seit dem letzten Treffen, und wer wusste es schon – vielleicht würde er sie ein letztes Mal sehen.
Da standen sie, harmonisch wie damals, lächelnd wie immer. Diese Harmonie zwischen den beiden schien ihm bewundernswert und beklagenswert zugleich, Segen und Fluch. Ja, ja – das Traumpaar! Nach achtzehn Jahren Ehe himmelten sie sich immer noch so an, wie am ersten Tag. Ihr Zusammenleben schien perfekt – etwas zu perfekt für Marvins Geschmack. Genau aus diesem Grund hatte er den Kontakt zu den beiden abgebrochen. Nicht, dass die Beziehung zu seiner eigenen Frau nicht auch harmonisch war! Aber Lisas voreiliges Gerede von Trennung ab und zu; und das nach den wenigen Differenzen, die Marvin mit ihr hatte. Und einmal ihre Vorwürfe, ausgerechnet in Gegenwart vor diesem Vorzeige-Ehepaar. Das war unerträglich für ihn.
Jens, der mit seinem Sommersprossengesicht und den strohblonden Haaren seltsam empfindsam für einen Mann aussah, war im Bankwesen tätig. Marietta war Architektin. Entsprechend anspruchsvoll wohnten sie. Ihr Haus war ein Traum, das musste Marvin zugeben. Und er vermisste auch seit Langem die angenehm geistvollen Unterhaltungen auf ihrer Veranda, wenn er sie alleine besucht hatte. Mit ihnen war es möglich, sich auszutauschen, ohne sich gleich dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, er rede intellektuelles Geschwafel, wie Lisa es nannte. Das gleiche Geschwafel, was sie früher mal so beeindruckt hatte – vor ihrer Hochzeit. Marvin hatte studiert, Lisa nicht. Das konnte sie nicht verstehen und meinte, er wäre manchmal arrogant ihr gegenüber. Dabei nahm er doch immer Rücksicht auf seine niedliche kleine Frau.
Marietta überreichte Marvin Blumen – nichts Pompöses, ein nett gebundener Strauß aus orangefarbenen Lilien, der gerade durch seine Schlichtheit überzeugte. Ganz einfach passend, wie zu erwarten. Jens kümmerte sich ungefragt sofort um die Beschaffung einer geeigneten Vase und verschwand noch einmal durch die Tür.
»Ich weiß, das fragt jetzt jeder – trotzdem, wie geht es dir?«
Marietta lächelte Marvin auf ihre charmante Art an. Wie zufällig umschmeichelten die brünetten Locken ihr dezent geschminktes Gesicht.
Perfekt halt!
Nein, das fragte nicht jeder, der ihn besuchen kam. Fragte man doch, hörte man ihm nicht zu. Bei Marietta verspürte Marvin auf einmal das Gefühl, dass sie es auch wirklich wissen wollte. Nicht einmal die Ärzte oder Schwestern des Krankenhauses konnten ihm dieses Gefühl vermitteln. Oder Lisa etwa – war es nicht so, dass sie jedes Mal ein anderes Thema begann, wenn er auch nur andeutungsweise über seine Beschwerden klagte? Er traute sich ja kaum, mit Lisa über seine Ängste zu sprechen. Lieber ließ er das Thema gleich beiseite und sprach stattdessen über belanglosen Quatsch mit ihr, wie die Farbe seines Schlafanzuges oder die Größe seiner Socken. Warum war es nicht möglich, mit seiner Ehefrau – der Partnerin an seiner Seite – in dieser für ihn extrem belastenden Situation über sich zu reden?
»Wenn du es wirklich wissen willst …«, offenbarte er Marietta, die ihren Kopf aufmerksam zu ihm hin beugte. »… mir geht es beschissen!«
Mariettas Gesichtsausdruck wechselte in ernst und mitleidig. Aufrichtig und nicht gespielt, wie Marvin fand. Sie blickte zu Jens nach hinten, der gerade mit einer richtigen Vase zurück ins Zimmer kam. Er nahm Marvin stumm die Blumen ab und stellte sie ins Wasser. Dann nahm er sich einen
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