Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
hoffentlich von SEINEM Kopf? Da waren sie und es gab für ihn nicht die geringste Möglichkeit, sie vor dem Arzt anzusehen und sich entsprechend darauf vorzubereiten. Er musste bedauerlicherweise auf den Chefarzt warten.
Marvin hatte Glück. Man ließ ihn sofort hereinkommen. Der Arzt, ein großer, für sein Alter schlanker Mann im weißen Kittel, mit ebenso weißen Haaren und halbhoher Lesebrille empfing ihn freundlich. Er bat Marvin, sich zu setzen. Ohne Zögern nahm er die CD, legte sie in seinen Computer und prüfte stumm und konzentriert die Aufnahmen auf dem Monitor.
Die Beurteilung der MRT-Bilder erfolgte schnell. Das Glioblastom, frontal, jetzt 2 x 2,8 cm, hatte sich geringfügig vergrößert. Von Verwechslung keine Rede!
Marvin blieb sitzen, obwohl der Chefarzt bereits hinter seinem Schreibtisch stand und Anstalten machte, ihn zu verabschieden. Das konnte nicht sein! Jetzt sollte sich das Ding auch noch vergrößert haben? Dabei war das Einzige, was ihn hier krankmachte, die Scheiß-Chemotherapie! Wie konnte dieser Mensch in Weiß eine solche Diagnose in nicht einmal einer Minute zweifelsfrei stellen? Hatten sie seine Bilder in der kurzen Zeit, während er nach der MRT warten musste, tatsächlich schon vertauscht? Oder wollte man sich gar auf seine Kosten bereichern?
Der Arzt hatte sich wieder gesetzt.
»Haben Sie noch Fragen?«
Oh ja, die hatte er! Marvin wollte ihm energisch entgegnen, so wie er es bei Tausenden von Diskussionen im Büro getan hatte. Dem Mann seine Meinung entgegenschleudern, ihn an die Wand reden, ihm die Diagnose zurückschreien. Aber seine Stimmbänder versiebten ihm diese Absicht.
»Wieso sind Sie so sicher, dass es ein Glioblastom ist?«
Das war schon der Satz, den er sagen wollte. Doch er hatte ihn anders sagen wollen, laut und provokant. Stattdessen klang der Satz jetzt dünn und verschluckt. Marvin erschrak selbst über das, was aus seinem Hals herauskam.
Der Arzt sah erstaunt aus. Mit einer Hand fasste er sich ruhig an das Kinn und begann dann, mit dem Zeigefinger langsam unter seiner Unterlippe hin und her zu streichen.
»Wir hatten doch darüber gesprochen.«
»Aber ich merke gar nichts davon!«
Marvins Stimme jetzt weinerlich.
»Dann schätzen Sie sich glücklich, dass es Ihnen noch so gut geht. Es ist frühzeitig entdeckt worden. Sie haben gute Chancen, erheblich länger als ein Jahr zu überleben! Erinnern Sie sich nicht? Sie wollten es doch wissen.«
Länger als ein Jahr?! Nein! Das hatte er nicht wissen wollen. Auf keinen Fall! Der Mann tat tatsächlich so, als wäre ein einziges Jahr eine lange Zeit! Marvin wollte es ausrufen, ihn anschreien, doch der Schrei blieb irgendwo zwischen Hals und Zunge stecken. Dafür zitterte er. Hände, Beine; der gesamte Körper vibrierte unter der Enttäuschung. In wochenlanger Gedankenquälerei war ihm zu Hause die Annäherung an den Gedanken eines todbringenden Tumors zunächst ein ganz klein wenig gelungen. Dass es ein Glioblastom sein sollte, wusste er ja. Die Untersuchungen, die Gespräche mit den Ärzten, die Chemotherapie … alles deswegen. Aber dann hatte er diese Zweifel bekommen. Es war doch nichts da, außer Kopfschmerzen und … gut … jetzt dieser lahme Arm. Das konnten doch auch Nebenwirkungen der Chemotherapie sein! Und was war mit der Geschichte von diesem André?
»Könnte es nicht eine Verwechslung sein?«
Der Chefarzt zog die Augenbrauen hoch.
»Wieso? Haben Sie konkrete Anhalte dafür?«
Er blätterte gewissenhaft durch die Patientenunterlagen, prüfte hier und da, schüttelte den Kopf. Dann noch einmal: »Haben Sie Anhalte dafür?«
Er sah ihn an, ernst und fragend.
»Gab es da nicht schon einmal eine Verwechslung? Vor Kurzem erst? André …«, Marvin kannte nicht einmal den Nachnamen. Diese kaltherzige Sabine wollte ihn ja nicht verraten. »… Sie wissen schon«, ergänzte er kleinlaut.
»André … wer?« Der Arzt schüttelte energisch den Kopf. »Nein – ich weiß nicht! Ein letztes Mal: Haben Sie in ihrem Fall konkrete Hinweise dafür, dass es sich um eine Verwechslung handelt?«
Unerschütterlich selbstsicher blickte der Mediziner ihn an. Was sollte Marvin sagen? Er hatte keine! Da saß er und fand sich bettelnd um die Chance einer Verwechslung. Doch nicht den Hauch davon wollte man ihm zugestehen. Er war ausweglos ausgeliefert, wie er sich auch wand.
Plötzlich kam er sich wie ein Idiot vor. Was sollte er dem Arzt erzählen? Dass sein Bettnachbar ihm einen Floh ins Ohr gesetzt hatte? Dass es seine einzige
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