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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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Stuhl und setzte sich neben Marietta vor Marvins Bett.
»Nun erzähl mal!«, sagte er leise und sie lauschten beide.
Und Marvin begann zu erzählen. Er erzählte von dem Tag, als er die Diagnose erhielt, von seiner Fahrt nach Hause zu Lisa und ihrem Weinen, von dem ersten Tag im Krankenhaus und von der spastischen linken Seite. Es war so erleichternd, all das loszuwerden.
Jens und Marietta hörten ihm still zu und nickten ab und zu. Über eine Stunde blieben sie bei ihm – länger, als Lisa es je tat. Bevor sie ihn verließen, drückten sie seine Hand.
»Das ist sicher alles ganz schlimm für dich! Du tust uns so leid. Wenn du irgendetwas benötigst, lass es uns wissen. Wir sind jederzeit für dich da.«
»Etwas Anständiges zu lesen«, bat Marvin und er wusste, Jens würde ihm kein Rätselheft und keine Klatschzeitschrift zumuten.
Sie gingen so leise und rücksichtsvoll, wie sie gekommen waren.
»Du bist ganz schön mager geworden«, sagten sie noch.
›Ein schöner Besuch‹, dachte Marvin. So wohltuend eindruckslos, dass er nicht eine Minute weiter darüber hätte nachdenken müssen. Wäre ihm nicht jene kleine, fast unmerkliche Geste zwischen ihnen aufgefallen, als sie nebeneinander die Tür nach draußen durchschritten. Eigentlich nichts Besonderes – Jens fasste Marietta im Gehen an den Po, nur so, wie Partner es taten, und Marietta zog ihren Po weg und schubste dabei seine Hand fort. Mehr nicht. Nichts Besonderes eben. Jedoch ungewöhnlich für die beiden. Vielleicht hatte sie ja ihre Tage, mutmaßte Marvin. Er vergaß sie bald wieder.

Kollege Bernd kam an einem Tag, als Marvin gerade mal wieder versuchte, seinen verkrampften Arm zu bändigen.
Der Mann sah aus wie immer. Wahrscheinlich war er direkt aus dem Büro gekommen, denn er trug dieses ausgebeulte, grob karierte Jackett, das er immer trug und das Marvin an das Klischee eines Gebrauchtwagenverkäufers erinnerte. Bernd war einfach niemals angemessen gekleidet. Mit seinen nach hinten gekämmten Haaren, dem schlecht ausrasierten Nacken und dem dichten, vom Rauchen vergilbten Schnauzer, erinnerte er an das traurige Bild eines erfolglosen Alleinunterhalters der achtziger Jahre.
Bernd war hilfreich am Arbeitsplatz. Ein Mann, der ihm die Fehler der anderen Kollegen zutrug. Marvin musste ihn nicht mögen! Nein, er konnte Bernd durchaus für einen schmierigen Zeitgenossen halten und ihn trotzdem Jahr für Jahr für eine Prämie vorschlagen. Schließlich ging es nur um die Arbeit. Und wem schadete es, wenn er Bernds Anbiedern ein wenig nutzte – so ein bisschen, wie ein König mit einem seiner unterwürfigen Diener. Diese Anschwärzerei schien ihm schließlich auch praktisch – fies und unethisch, aber ungemein praktisch. So wusste Marvin stets über alle großen und kleinen Verfehlungen seiner Mitarbeiter Bescheid. Oder über das, was sie über Marvin sagten! Warum also sollte er das nicht nutzen?
Leider hatte er Bernd in einer schwachen Stunde bei einem Betriebsfest das ›Du‹ angeboten. Leider! Aber es ließ sich schlecht rückgängig machen. Für Bernd war das eine große Sache gewesen! Auf ›Du und Du‹ mit dem Chef! Aus der Anonymität der anderen Mitarbeiter heraus geholt und über sie gestellt. Natürlich hoffte er auf entsprechende Belohnung, wie Prämien, Gehaltserhöhung … Beförderung.
Marvin registrierte, wie Bernds Miene vorübergehend einfror, als er ihn nach so vielen Wochen jetzt das erste Mal wieder sah. Doch er fing sich relativ schnell wieder. Wie Marvin fand, etwas zu schnell. Die Frage nach Marvins Befinden erschien Bernd anscheinend überflüssig, dafür verkniff er sich auch jede Bemerkung über die Spastik.
»Wir haben einen neuen Kollegen«, verriet er. »Einen ganz jungen Mann, direkt von der Uni!«
›Direkt von der Uni‹ betonte er, als wäre es ein Makel.
Der Junge wäre jetzt übrigens des Vorstands Liebling. Ein Klugscheißer allemal. Einer, der die Theorie beherrschte, sicher, aber in der Praxis versagte.
Marvin teilte Bernds Vorbehalte gegenüber jungen Diplomanden nicht. Im Gegenteil, er schätzte den frischen Wind, den sie in die Abteilung brachten und die interessanten Diskussionen, die er mit ihnen führen konnte. Sie blieben selten für lange, da Marvin ihnen kein Fortkommen in seiner Abteilung bieten konnte. Für Bernd aber waren sie die Konkurrenz schlechthin.
»Die Praxis wird der junge Mann dann jetzt lernen. Du kannst ihm ja helfen«, wandte Marvin ein, damit beschäftigt, sein linkes Bein über die Bettkante

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