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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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kurz das Büro verlassen musste. Wer in dieser Zeit an den Rechner kam, konnte natürlich auch unbemerkt die Dateien manipulieren. In seiner Erinnerung tauchten zahlreiche Situationen auf, in denen er sich mangelnde Konzentration vorgeworfen hatte, weil ihm die blödesten Fehler in den Tabellen unterlaufen waren. Flüchtigkeitsfehler, die er sich nicht erklären konnte. Bernd war jedes Mal der hilfreiche Kollege gewesen, der sie mit ihm gemeinsam bis in den späten Abend ausgebadet hatte und den Marvin dafür alljährlich für Gehaltserhöhungen vorschlug.
»Warum bist du gekommen?«, fragte er.
Ein Rest aufgeschäumter Milch klebte an Bernds Schnauzer, als er von seiner Tasse hochblickte. Entweder, weil er etwas spürte oder aus einer Gewohnheit heraus wischte er mit der Hand den Bart entlang, entfernte aber nicht den gesamten Milchrest. So blieb dieser an einer Stelle haften. Die Hand schmierte er an der Armlehne ab. Bernd lehnte sich zurück und steckte die Hände lässig in die Hosentaschen. Auch so etwas, um das Marvin ihn zurzeit beneidete.
»Ich wollte dich sehen.«
»Nur das?«
»Und dich etwas fragen.«
»Nur zu!«
»Warum komme ich nicht weiter in der Firma? Wieso setzen die mir so einen Grünschnabel vor die Nase? Ich kann alles das, was du kannst, und alles, was der Neue kann. Trotzdem bleibe ich auf meinem miesen Posten sitzen.«
Marvin zuckte die Schultern. Er empfand es als eine Art Gerechtigkeit, dass dieser Bernd mit seinen hässlichen falschen Anschleimereien jetzt in zweiter Reihe sitzen blieb.
»Möglicherweise bist du dem Vorstand einfach nicht sympathisch. Vielleicht solltest du auch mal eine andere Jacke kaufen. Ehrlich gesagt, Bernd, es könnte auch sein, dass du eben doch kein Gewinner bist, sondern einfach nur ein Arschloch! Vielleicht konnte ich dich einfach nicht empfehlen.«
Bernd öffnete perplex den Mund.
Marvin bemerkte es mit Genugtuung. »Aber bist du nicht eigentlich hier, um ein paar Probleme der Berichterstattung mit mir zu besprechen?«
»Nicht nötig, die habe ich bereits selbst gelöst.«
»Indem du die Fehler korrigiertest, die du dem Neuling untergeschoben hast?«
Bernd zögerte. Dann begann er – immer noch mit den Händen in den Taschen – verschlagen zu lächeln. Es war ein gemeines Lächeln. Es war die Art zu lächeln, wenn man an etwas Böses dachte, dass man getan hatte oder noch vor hatte zu tun und sich darüber freute. Ein heimliches Siegerlächeln.
»So könnte es sein.«
»Und warum erzählst du mir das?«
»Warum nicht?«
»Du erwartest also nicht, dass ich noch einmal ins Büro komme?«
Bernd blickte langsam an Marvins Körper herunter, blieb dann kurz am Arm haften, erfasste mit den Augen den Rollstuhl und wieder das Gesicht.
»Nein, es sieht nicht so aus.«
Marvin schluckte trocken. Nie im Leben hätte er gedacht, dass er das Lächeln eines ihm bekannten Menschen so grausig finden könnte.
»Ich könnte jemandem von deinen Manipulationen erzählen.«
Bernd blieb sich sicher.
»Du bist ein kranker Mann, Marvin! Ein krankes Gehirn hat viele Facetten.«
Was dieser feine Kollege von seinem Krankenhausbesuch in der Firma berichten würde, konnte Marvin sich sehr gut ausmalen. Waffenlos fühlte er sich ausgeliefert, während Bernd ihm Fehler und Irrtümer im Nachhinein zuschreiben würde. Wie sollte er sich verteidigen? Kein Anruf von Marvin könnte eine Verunglimpfung seiner Person aufhalten. Marvin musste es geschehen lassen und den Gedanken daran wehrlos ertragen. Neben seinem Ringen gegen die tödliche Krankheit noch einen Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz auszufechten, überstieg seine Kräfte bei Weitem.
»Du brauchst mich nicht zurückzuschieben, Bernd. Ich komme alleine zurecht.«
Bernds abstoßendes Lächeln versiegte allmählich. Ohne Hast stellte er seine Tasse ab und stand auf.
»Also dann!"«
Von oben herab reichte Bernd seine Hand, die zu nehmen Marvin ekelte. Trotzdem nahm er sie, aus antrainierter Höflichkeit.
»Lebe wohl!«, sagte Marvin. »Du wirst deinen Weg gehen, schätze ich.«
»Ja – und du den Deinen. Ich hoffe für dich, es dauert nicht zu lange.«
Marvin sah ihm vom Rollstuhl aus nach, wie er zur Tür herausging, ohne sich umzublicken. Für Bernd war er bereits tot.
Schülerin Elke brachte ihn wieder zur Station. Sie musste seine Bedrücktheit bemerkt haben, denn sie lachte und witzelte nicht wie sonst. Unterwegs vibrierte sein Handy in der Tasche des Morgenmantels. Bis es Marvin gelang, es da herauszufummeln, verstummte der Anruf. Er las

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