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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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Bernd hinüberblickte, sah er in diesen Augen, wie sie ihn verachteten. Bernds Gesichtsausdruck war der von jemandem, der sich überlegen fühlte.
Es ärgerte Marvin, so hilflos dazustehen. Es ärgerte ihn, dass Bernd, den er nicht leiden konnte und dessen Vorgesetzter er war, ihn in dieser Lage sah. Kein Wunder, dass es Bernd mehr beschäftigte, was der neue Mitarbeiter in der Firma trieb. Was hatte er von Marvin schon noch zu befürchten? Marvin wackelte zum Rollstuhl und ließ sich genauso umständlich nieder, wie er aufgestanden war.
Er blickte zu Bernd. »Hast du Angst vor ihm?«
Bernd zuckte die Schultern.
»Was heißt Angst? Wir leben in einer harten, kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Nur wer kämpft, gewinnt auch. Es kann immer nur Gewinner und Verlierer geben. Dazwischen gibt es nichts. Das ist das Leben.«
»So? Dazwischen gibt es nichts?«
Marvin versuchte, mit dem beweglichen Arm seinen Morgenmantel zurechtzuzupfen, den er beim Sitzen immer mehr verknautschte und auf dessen Wulst er jetzt saß.
»Ab wann siehst du dich als Verlierer?«
»Wenn ein anderer mich überholt. Dann bin ich ein Verlierer. Wenn ich aufhöre zu kämpfen, dann bin ich ein Verlierer.«
»Das Manipulieren der Daten ist also deine Kampfstrategie?«
»Natürlich ist es das. Der Junge hat vielleicht sein ›Vitamin B‹, einen Papa, der jemanden vom Vorstand gut kennt oder so etwas. Ich nicht! Dafür habe ich meine Lebenserfahrung. Sieh es mal so – er wird daraus lernen. Damit tue ich ihm eigentlich etwas Gutes, oder?«
Marvin betrachtete seine Beine im Rollstuhl.
»Was ist mit mir? Ich bin dann wohl jetzt auf der Verliererseite.«
»Du musst auch kämpfen wollen. Das Leben ist ein Kampf.«
»Was meinst du, was ich hier tue? Die Chemotherapie, die Nebenwirkungen, die Zweifel – meinst du, das ist leicht? Ich könnte auch nach Hause gehen und abwarten.«
»Wenn man so denkt, muss man ja sterben.«
»Willst du damit sagen, ich bin selbst schuld daran?«
»Wenn du gar nicht versuchst zu gewinnen, ist dein Leben verloren, oder?«
»Ist es nicht von vornherein verloren? Oder, von der anderen Seite aus betrachtet, wenn es – da man ja auf jeden Fall irgendwann sterben muss – sowieso von Anfang an verloren ist, muss man das Leben dazwischen dann nicht als Geschenk betrachten? Es kann ja sein, dass man nur ein sehr kleines Geschenk erhalten hat.«
Bernd verdrehte die Augen. »Das wird mir jetzt zu philosophisch!«
Er packte den Rollstuhl und drehte ihn zur Tür.
»Wo soll's denn hingehen?«
»Zur Cafeteria!«, brummte Marvin.
Die Wulst des Morgenmantels drückte in sein mageres Gesäß.
Es beschlich ihn ein Gefühl des Versagens, als er im Rollstuhl und ausgerechnet von Bernd durch die Krankenhausgänge geschoben wurde. Erniedrigend, nicht selbst bestimmen zu können, welchen Weg er nehmen würde oder mit welcher Geschwindigkeit er sich vorwärts bewegte. Bernd schob, aufrecht gehend, während er, Marvin, zusammengeklappt und hilflos dasaß – abhängig dasaß! Was in Bernd vorging, konnte er sich denken. Der hielt ihn für einen Verlierer. Marvin hatte seinen Posten an einen Frischling verloren, seine Unabhängigkeit verloren und alles, was ihm sonst Respekt verlieh. Und er war im Begriff, sein Leben zu verlieren. Mehr Verlierer konnte man gar nicht sein! Warum also war Bernd hierher gekommen? Um sich das Spielchen anzusehen? Um sicherzugehen, dass Marvin nicht mehr ins Büro zurückkehren würde?
In der Cafeteria gab Marvin Bernd einen Cappuccino aus. Bernd betätigte den Automaten, Marvin zahlte an der Kasse. Umständlich – die Kassiererin nahm ihm schließlich die Geldbörse ab und zählte die Münzen selbst. Es ging schneller so. Bernd schlürfte aus der heißen Tasse und Marvin beneidete ihn darum. So etwas wie Kaffee oder Cappuccino konnte er seinem Magen nicht mehr zumuten.
Er betrachtete Bernd, wie er selbstzufrieden trank und stellte sich vor, wie er in seiner dämlichen karierten Jacke in Marvins Büro stand. Wie er sich über den Computer beugte und heimlich eine Tabelle änderte – ohne Unrechtsbewusstsein. Dieses Mal betraf es einen neuen Kollegen, der Marvin nicht wirklich leidtat, weil er ihn nicht kannte. Doch woher wollte er wissen, ob Bernd diese Art des Konkurrenzkampfes nicht schon immer anwendete. Bis der Passwortschutz des Bildschirmschoners automatisch einsetzte, vergingen an seinem Rechner immerhin zehn Minuten. Nie hatte Marvin sich die Zeit genommen, die Tabellen vorher manuell zu schützen, wenn er

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