Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
zu bringen, damit er aufstehen konnte.
Dass heute auch sein linkes Bein krampfte, machte ihm besonders zu schaffen. Bernd machte keine Anstalten, ihm beim Aufstehen zu helfen. Er reichte ihm jedoch den Morgenmantel vom Besucherstuhl, als Marvin danach verlangte, und sah zu, mit welchem Umstand man so einen Mantel anzieht, während der linke Arm als störendes Objekt am Körper haftete.
»Weißt du, wer jetzt die Berichterstattung zusammenführt?«
Bernd sah zunächst aus, als erwartete er, die Antwort würde ihm ins Gesicht springen. Es war aber wohl doch eine rhetorische Frage, die er selbst beantwortete, in dem er so tat, als hätte Marvin richtig geraten.
»Richtig! Genau dieser Klugscheißer!«
Tatsächlich staunte Marvin. Die endgültige Berichterstattung war eigentlich sein Ressort. Der junge Mann, frisch von der Uni, saß also bereits auf seinem Stuhl, Kollege Bernd vor die Nase gesetzt. Für Bernd spukte dann wohl das Angstgespenst des vor die Nase gesetzten Jungakademikers äußerst lebendig durch die Firma. Die Luft in der Abteilung musste zum Schneiden dick sein.
»Und – klappt das denn ohne Schwierigkeiten?«
Bernd warf den Kopf in den Nacken und lachte höhnisch.
»Was glaubst du denn? Natürlich nicht!«
›Schön!‹, dachte sich Marvin.
Er gönnte es dem Frischling. Sicher! Sollte der sich doch mit Marvins Vertretung die ersten Sporen verdienen. Dennoch hätte es ihn enttäuscht, seine jahrelange Erfahrung wäre innerhalb weniger Wochen abdingbar geworden. Nein – er hielt sich nicht für unersetzlich, dennoch befriedigte es ihn, dass seine Abwesenheit in der Firma Schwierigkeiten bereitete.
»Aber der Herr Kollege wird schon sehr bald auf den Boden der Tatsachen zurückkehren«, fuhr Bernd fort. »Ich bin mir sicher, seine Berichte werden den Vorstand enttäuschen.«
»Wieso werden sie enttäuschen?«
»Er wird Fehler machen!«
»Wer macht die nicht, wenn er eine neue Aufgabe übernimmt. Das weiß auch der Vorstand.«
»Seine Fehler werden aber gravierend sein!«
»Warum so sicher?«
Bernd grinste breit. Sein Oberlippenbart bewegte sich mit und seine Nasenlöcher vergruben sich dabei in den vergilbten Borsten.
»Der Schlaumeier sichert seine Daten nicht.«
»Aber die Daten werden automatisch gesichert.«
Marvin merkte sehr wohl, dass Bernd auf etwas anderes hinaus wollte, aber glauben wollte er es nicht.
Flüsternd beugte er sich etwas näher zu Marvins Gesicht.
»Er sichert sie aber nicht vor Zugriff. Er benutzt kein Passwort, um sie zu schützen. Klar jetzt?«
»Du manipulierst seine Daten?!«
»Was heißt hier manipulieren? Ich mache nicht viel! Lediglich ein paar kleine Änderungen hier und da in seiner Tabellenkalkulation. Wie gesagt, nicht viel eigentlich. Man könnte sagen, ich teste ihn. Es nicht zu merken, ist schon fahrlässig von ihm!«
Marvin hätte seinem Kollegen einiges Unschönes zugetraut, aber das übertraf nun doch seine Vorstellungen.
Um endlich aufzustehen, stemmte er seine Beine auf den Boden. Ach ja, die Kniearthrose links! Dieses lästige Leiden hatte er fast vergessen. Es wurde ganz einfach vom Tumor übertroffen. Außerdem lag er ja fast nur noch im Bett oder wurde im Rollstuhl gefahren. Daraus ergaben sich nur wenige Gelegenheiten für die Arthrose, sich zu melden. Nun aber, besonders morgens, meldete sich das Knie steif und schmerzhaft, wenn er versuchte, sich aus dem Bett zu bewegen. Dabei hatte er nicht einmal besonders intensiv Sport getrieben. Ein bisschen gelaufen war er früher – von wegen Sport ist gesund! Damals war ihm das erste Mal klar geworden, dass sein Körper nicht für immer intakt sein würde. Vergänglichkeit ließ sich nicht aufhalten. Damals meinte er auch noch, jedes seiner Gelenke würde nach und nach verschleißen, jeder Knochen brüchig werden, jedes Organ zerfallen, bevor er sterben würde. Wie man sich täuschen konnte. Nichts kam so, wie er es sich dachte. Es sah ganz danach aus, als würde er mit sehr vielen noch halbwegs intakten Knochen ins Grab gehen.
Schließlich stand er. Einen Arm an den Körper gezogen, das Bein ungewollt auf Zehenspitzen. Er musste eine Weile warten, weil das Knie schmerzte. Die ersten Schritte waren schrecklich.
Kollege Bernd sah sich die zeitraubende Prozedur des Aufstehens stumm an, die Hände in den Taschen vergraben. Von wegen Anbiedern! Er musterte Marvin. Marvin spürte das! Er spürte, wie die Augen seines Mitarbeiters über seinen nicht mehr der Norm entsprechenden Körper wanderten. Als er verstohlen zu
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