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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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konnte nicht kommen an diesem Abend.
»Besuch«, sagte sie. Aber die Telefonnummern wollte sie für Morgen heraussuchen.
»So? Wer kommt denn?«
»Wieso willst du das wissen?«
»Ich werde doch mal fragen dürfen.«
Lisa verstummte eine Weile am Telefonhörer und Marvin wusste genau, was sie gleich sagen würde.
»Marvin … fang nicht schon wieder damit an! Du weißt genau, wir hatten über dieses Thema schon so oft gesprochen.«
So, wie er geahnt hatte! Sogar ihren Wortlaut hätte er voraussagen können. Marvin wusste es genau. Dies war der Moment, in dem er sich ein bisschen zusammenreißen musste, um einen Streit zu vermeiden. Doch er schaffte es nicht.
»Bitte Lisa, du brauchst mir nur den Namen zu sagen. Ist es denn so geheimnisvoll?«
»Natürlich ist es nicht geheimnisvoll! Aber alleine die Art, wie du fragst, regt mich auf. Deine Eifersucht ist krankhaft.«
»Ich bin nicht eifersüchtig! Du kannst Besuch empfangen, soviel und wen du willst. Doch ich möchte nicht, dass du ihn mir verheimlichst.«
»Erstens habe ich dir meinen Besuch nicht verheimlicht und zweitens unterstellst du sofort, dass es sich um einen Ihn handelt. Da willst du mir weismachen, du wärst nicht eifersüchtig?«
Marvin gab auf. Er wollte es abkürzen. »Na gut, ich bin eifersüchtig! Also heraus mit der Sprache – wer ist es?«
»Jemand, den du kennst! Marvin – wir hatten das vor deiner Erkrankung alles geklärt! An unserer Beziehung hat sich nichts geändert. Deine Krankheit macht das nicht alles ungeschehen!«
»Es tut mir leid, Lisa …«
»Gute Nacht, Marvin.«
Zu spät. Lisa legte auf. Warum hatte er auch nicht den Mund gehalten?
›Das Wichtigste im Leben sind die Beziehungen zu anderen Menschen.‹
Bastis Satz zu verstehen, war einfach, doch so zu handeln, nicht.

Seine Mutter kam in Begleitung von Basti. Marvin wusste gleich, es würde ein anstrengendes Gespräch werden, dennoch freute er sich über ihren Besuch.
Auch äußerlich war sie alt geworden, so wie sie vor ihm stand – mit ihrem Rollator, ihre Haare weiß und ihre Haut dünn wie Pergament, ihr Rücken krummer als früher. Die schlanke, fast schon ausgezehrte Figur erinnerte ihn an ein altes gebeugtes Mütterchen aus einem Märchen. Sie war viel kleiner geworden.
Doch bereits ihre Begrüßung blies den Anflug von Nachsicht in ihm weg, denn ihre Stimme war wie gewohnt tief und von erschreckender Härte.
»Mein Gott, wie siehst du denn aus?!«
Sie sagte nicht ›Guten Morgen‹ oder ›Hallo‹, wie man sich normalerweise ausdrückt. Nein – sie sagte: ›Mein Gott, wie siehst du denn aus‹. Und das mit einer Betonung, als sei er selbst schuld an seinem Aussehen.
Seit ein paar Jahren verstärkten sich alle ihre unangenehmen Eigenarten. Marvin fühlte sich unruhig heute und er merkte, dass er übertrieben gereizt antworten würde. Aber er konnte es nicht verhindern.
»Ich liege im Krankenhaus, Mutter. Wäre ich rosig und gesund, würde ich jetzt arbeiten gehen.«
»Aber deine Augen! Du siehst ja aus wie ein lebendiger Toter.«
Feinfühlig, wie man es von Frauen eigentlich erwartet, war sie noch nie gewesen.
»Ich habe einen Hirntumor, Mutter …«
Sie winkte ab.
»Kopfschmerzen habe ich auch immer. Furchtbar! An manchen Tagen kann ich gar nicht aus den Augen sehen.«
Marvin wusste nicht, warum er sich überhaupt ärgerte. Er kannte sie doch. Längst war sie nicht mehr in der Lage zuzuhören, sprach immer nur von sich. Er ermahnte sich zu Geduld und ließ sie reden.
Vor lauter Ausmalen sämtlicher ihrer Krankengeschichten vergingen zwanzig Minuten und er erwischte sich dabei, wie er ihr genauso wenig zuhörte wie sie ihm. Marvin betrachtete sie. Sie saß auf ihrem Rollator, verbraucht zwar, aber immer noch energisch. So alt würde er selbst nicht werden, schoss es ihm durch den Kopf. Sie überlebte ihn, egal wie lange er seinen Kampf gegen den Tumor durchhielte. Ob sie verstand, was mit ihm vor sich ging?
»Ich will morgen mein Geld zählen!«, sagte sie.
»Mutter?«
Sie sprach über ihre Tabletten.
»Mutter!«
Marvin rief es laut in den Raum.
Endlich: »Ja? Ich höre ja!«
»Weißt du, was ein Hirntumor ist?«
»Sicher weiß ich das!«
»Weißt du auch, dass man daran sterben kann?«
»Ich habe schon damals gesagt, mit dem Marvin stimmt was nicht!«
Sie richtete ihren Satz an Basti, der an der Wand angelehnt stand und sich die Szenerie wortlos gelangweilt ansah, während er den Zeigefinger in einen Ritz an der Wand bohrte.
»Wie? Mit mir stimmt was nicht?«, zischte

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