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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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die Nummer seiner Tochter. Kurz darauf kam eine SMS. Sie wollte ihn bald besuchen kommen.
»Na … Handys sind hier aber nicht erlaubt!«
Marvin antwortete Elke nicht. Sie war ihm egal. Er tippte einhändig auf der Tastatur herum und entdeckte das Bild seines schnarchenden Bettnachbarn Frederik vom ersten Tag seines Aufenthaltes in diesem Krankenhaus. Das nächste Bild zeigte sein eigenes Gesicht. Darauf sah er noch nicht sehr krank aus – nicht so wie jetzt.
Im Zimmer ließ er sich direkt vor das Waschbecken schieben. Als Elke fort war, holte er das Handy wieder aus der Tasche und betrachtete sich erneut auf dem Bild. Er wollte sein Gesicht im Spiegel mit demjenigen auf dem Foto vergleichen. Wie sehr hatte er sich verändert! Marvin erblickte im Spiegel einen hageren Mann. Appetitlosigkeit und die ewige Kotzerei hatten ihn ausgezehrt. Jetzt schon! Das war erst der erste Zyklus der Chemotherapie. Wie sollte das beim zweiten, dritten und vierten Zyklus werden? Und was brachte ihm diese Behandlung? Innerhalb kurzer Zeit ging es ihm schlechter als je zuvor. Bei seiner Anmeldung hier hatte er immerhin noch aufrecht gehen können! Niemand hatte ihm angesehen, wie schwer krank er sein sollte. Jetzt aber war er abgemagert, spastisch gelähmt und saß meistens im Rollstuhl. Er brauchte Hilfe beim Anziehen und konnte nur schlecht alleine laufen. Dazu kam Lisa ihn seit zwei Tagen nicht besuchen. Ihre Telefonate mit ihm waren gefüllt mit ihren Alltäglichkeiten. Marvin fühlte sich wie ein vergessenes Wrack. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, er könnte dieses Krankenhaus vielleicht gar nicht lebend verlassen. Wie war das noch mit Frederik? Der war einfach verschwunden! Weg! Vielleicht hatte ja auch er dieses Krankenhaus nicht lebend verlassen.
In seinem Zimmer hing ein Kreuz. Es hing an der Wand gegenüber seinem Kopfende, sodass er im Sitzen keine andere Möglichkeit besaß, als darauf zu sehen, wollte er nicht die Wand selbst anblicken. Was würde ihn nach dem Tod erwarten? Nichts? Oder doch ein Gott, der ihn in Güte empfangen würde? Vielleicht sollte er die verbliebene Zeit mit wichtigeren Fragen verbringen, als mit denen, um wie viel sein Kollege ihn schlechtmachen würde und ob er nur zu Besuch gekommen war, um Marvin krepieren zu sehen.

Marvins Lieblingsbeschäftigung wurde das Zappen im Fernsehprogramm und natürlich das, was er nie lassen konnte: denken, denken, denken. Nachdenken über seinen Kopf, über sich, über Lisa und darüber, wie genau der Tod ihm nun begegnen würde. Der so sanft ausgemalte Badewannentod kam ihm auf einmal sehr unrealistisch vor. Viel zu poetisch, zu schmerzlos, fast wie im Märchen. Was wusste er schon vom Tod? Noch nie hatte er einen toten Menschen gesehen, nicht einmal seinen eigenen Vater. Als der starb, war Marvin für die Firma in den Staaten gewesen und hatte sich erst am fertig geschmückten Grab von ihm verabschieden können. Lisas Eltern und seine Mutter lebten noch, und auch sonst war in seinem Bekanntenkreis noch niemand gestorben, für den er an das Sterbebett geeilt wäre. Nein – den Tod hatte er immer nur heimlich und weit entfernt umher schleichen hören.
Marvin wollte es noch einmal probieren. Er musste wissen, wie das ist, wenn man stirbt. Rücklings legte er sich auf das Laken, deckte sich zu, verschränkte die Hände wie zu einem Gebet vor seinem Körper und übte den Badewannentod in der Version ›Krankenbett‹. Die Umgebung war zumindest schon mal realistischer. Ein paar Mal tief ein- und ausatmen und dann die Luft langsam herauslassen. Er machte nichts anders, als damals in der Badewanne. Doch dieses Mal entwich sein Atem schneller als geplant und ein Augenblick in Ruhe, ohne Atemnot, blieb nicht übrig. Ohne Schonung bedrängte ihn sofort ein qualvolles Erstickungsgefühl und bereits nach wenigen Sekunden japste er senkrecht sitzend nach Luft. Sein Gesicht wurde heiß. Das war nicht so gelaufen wie gewollt.
Marvin beschloss, es noch einmal in Ruhe zu versuchen. Diesmal wollte er seine Lungenflügel vorher mit noch mehr Sauerstoff vollpumpen, um die Qual der Luftnot weiter hinauszuzögern. So würde ihm mehr Zeit bleiben, sich einen sanften Tod vorzustellen. Wieder legte er sich auf den Rücken und bedeckte sich bis zur Brust mit dem dünnen gelben Oberbett. Er starrte dabei an die Decke und atmete tief. Schon den eben erlebten kurzen Moment ohne Atem hatte er unerträglich gefunden. Sekunden nur und sein empfindlicher Organismus bräche zusammen. Eben noch

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