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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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Zuhause, in der eigenen Wohnung, sollte er nicht zulassen, dass sie sich aus dem Weg gingen.
»Lisa! Bleib hier – bitte.«
Sie blieb stehen, augenblicklich, als hätte sie schon lange auf diesen Satz von ihm gewartet. Langsam drehte sie sich um, sah ihn gequält an. Ihre Stimme wehte fast klanglos zu ihm herüber, ohne eine Spur des Energiebündels, das sie sonst war. »Ich kann dir keine Hilfe sein, Marvin. Ich kann einfach nicht.«
»Warum nicht?«, flüsterte er, um sie nicht mit lauten Worten zu verschrecken.
Lisa kam zurück. Sie blieb direkt vor seinem Rollstuhl stehen und hielt ihm ihre Hände entgegen. Hände, die sie öffnete, als wollte sie etwas geben oder empfangen.
»Mein eigenes Leben ist mir schon schwer genug. Wie könnte ich dir da helfen? Ich war gerade dabei, mir ein eigenes Leben aufzubauen. Jetzt soll ich dir plötzlich eine Stütze sein. Man erwartet von mir, dass ich Entscheidungen für dich treffe! Marvin – das kann ich nicht.« Ihre Augenlider fielen immer tiefer herab, während sie sprach. »Ich kann es einfach nicht.«
Marvin mochte es nicht hören. »Ich wollte dir doch die Schulter zum Anlehnen sein, wie ein Berg vor dir stehen, der dich beschützt. Ich war immer stark für dich, Lisa.«
»Aber über Berge kann man nicht hinwegsehen. Ich wollte auch stark sein, Marvin, aber du hast mich nie gelassen.«
Ergriffen nahm er ihre kleine Hand in seine und hielt sie fest. Er klammerte sich an ihre Hand und an ihre grünen Augen und was er darin sah, war Verzweiflung.
»Wenigstens lass mich deine Nähe spüren«, flehte er. »Wenn du einfach nur da wärst. Ich meine, richtig da wärst. Das würde mir schon helfen. Mehr erwarte ich ja nicht. Wir waren doch mal so ein glückliches Paar.«
Mutlos schüttelte sie den Kopf. »Wir waren nicht glücklich, Marvin. Weißt du das nicht mehr? Ich hatte mir schon eine Wohnung gemietet.«
Sie schwiegen.
»Wahrscheinlich würde ich sowieso mehr heulen, als du ertragen könntest«, sagte sie dann.
Das hätte er wirklich nicht gekonnt. Eine heulende Lisa ertragen, war eine der schwersten Lasten, die Marvin sich vorzustellen vermochte.
»Ich bin ein Nervenbündel. Du hast es gewusst, als du mich geheiratet hast«, fuhr sie fort.
Er presste ihre Hände an sein Gesicht.
»Ja – spätestens dann«, lächelte er und erinnerte sich an diesen Tag, den vielleicht schönsten für ihn, aber nicht für Lisa. Lisa, die Braut in ihrem zauberhaften weißen Kleid mit blütenzarter Spitze. Und Karl, sein bester Freund als Traupfarrer. Die perfekte Hochzeitsfeier - nur Lisa gereizt. Die ganze Aufregung war zu viel für ihr Nervenkostüm. Abends weinte sie, nicht vor Glück wie er, sondern vor Erschöpfung. Dann schlief sie in seinen Armen ein, das zarte Wesen, schluchzte ab und zu noch auf.
Ja – er hatte es gewusst. Gerade ihre Zartheit hatte ihn ja so angezogen, als er sie am Strand das erste Mal gesehen hatte. Ihr schreckhaftes, leicht verletzliches Wesen, welches man nicht so einfach erobern konnte. Und ihre Angst vor dem Alleinsein – keinen Menschen hatte er je so schnell verunsichert gesehen, wie Lisa. Es war gar nicht möglich, sie sich in einem großen Haus ganz alleine vorzustellen. Viel zu viele dunkle Ecken, vor denen sie sich fürchten müsste.
Marvin ahnte für einen Moment, dass er sie gehen lassen musste. Alleine schon deshalb, damit sie sich an jemand anderen anlehnen konnte. Er wusste, es gab jemand anderen. Doch er verdrängte diesen Gedanken sofort. Lisa loszulassen, war undenkbar. Langsam zog er sie noch enger zu sich heran, bis sie mit ihrem Bauch direkt vor seinem Gesicht stand und er mit der Nase ihre Bluse berühren und den Duft ihres Körpers erhaschen konnte.
»Sag mir, liebst du mich noch ein bisschen?«, fragte er leise, umschlang ihre Taille und drückte sein Gesicht in ihren Bauch. Sanft fühlte er ihre Hände über sein Haar streichen, fünf oder sechs Mal. Dann löste sie sich und ging in die Knie, um Angesicht zu Angesicht mit ihm zu sein.
»Ich habe dich geliebt, Marvin. Anders, als du es dir gewünscht hättest, vielleicht. Aber ich habe dich auf meine Art geliebt. Auch, wenn ich oft glaubte, von deiner Liebe stranguliert zu werden. Deine Eifersucht hat unsere Liebe zerstört. Hättest du mich nicht dauernd beschuldigt, wäre es wahrscheinlich nie passiert.«
»Wer? Lisa – sag es mir! Wer?«
»Marvin!« Sie fasste seinen Kopf zwischen ihren Händen. »Marvin!«, sprach sie eindringlich, aber sanft. »Wir leben in Scheidung. Es ist

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