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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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erhalten.

Basti überraschte ihn gegen acht Uhr am Morgen mit einem Pfleger namens Julian, der Marvin beim Waschen und Anziehen helfen sollte. Seltsam, nachdem er in den letzten Wochen ausnahmslos und jedes Mal beschämt pflegenden Frauen ausgeliefert gewesen war, empfand er es jetzt trotzdem nicht als angenehmer, von einem Mann angefasst zu werden. Seine Haut wehrte sich gegen die Berührungen eines Menschen gleichen Geschlechts. Doch es half nichts. Sich komplett alleine zu waschen und anzukleiden, war inzwischen zu anstrengend für Marvin.
Während Julian ihn mit erstaunlicher, aber sensibler Routine auf die Beine und in die Kleider half, beobachtete er den sanft wirkenden jungen Mann misstrauisch darauf hin, ob er ihn, angesichts von Marvins schlaffer Nacktheit, bei einem verächtlichen Grinsen erwischte. Doch nichts dergleichen geschah. Julian lächelte freundlich, aber er grinste nicht. Verwunderlich auch, wie ein so schlanker junger Mann da, wo es nötig war, so kräftig und selbstsicher zupacken konnte. Vermutlich täuschte der Eindruck. Vielleicht ließen ihn nur das hellblonde Haar und die weichen Gesichtszüge mit der schmalen und leicht geröteten Nase und der flaumig angedeutete Oberlippenbart so zerbrechlich wirken. Im Grunde gab es für Marvin nichts an Julian auszusetzen, dennoch behagte ihm der fremde Mann an seinem Körper nicht. Daran würde er sich erst gewöhnen müssen.
Kurz nachdem Julian nach unten verschwunden war und Marvin sauber angezogen auf einem Stuhl im Schlafzimmer saß, brachte Basti Wasser und die alltäglichen ekeligen Tabletten. Marvin nahm sie angewidert, aber widerstandslos. Von diesen weißen und bunten Produkten der Pharmaindustrie hing seine Lebensqualität ab.
»Du weißt, dass du bald wieder ins Krankenhaus musst?«
Unwirsch wich Marvin aus. »Nicht wieder in dieses Krankenhaus!«
»Aber es macht keinen Sinn, jetzt eine andere Klinik zu suchen. Dort kennt man dich doch schon.«
Verlegen warf Marvin einen Blick zu Basti. »Eben, drum!«
Wann immer sein Bruder seinen Mund zu einem Lächeln formte, kam es Marvin wie ein Grinsen vor. Jetzt auch! Er hatte ja recht. Natürlich war es das Vernünftigste, dieselbe Klinik für den nächsten Chemo-Zyklus aufzusuchen. Natürlich wusste Marvin auch, warum Basti grinste. Sie mussten es ihm erzählt haben. Alles – von Marvins absurden Verdächtigungen, seine seltsamen Äußerungen, dass er ins Bett gemacht hatte … alles eben.
Die Erinnerung an sein Verhalten im Krankenhaus war ihm unangenehm, jetzt wo er zu Hause auf einem Stuhl saß und darüber nachdachte. Acht Wochen hatte er dort verbracht. Es waren acht Wochen voll von intensivsten Erfahrungen gewesen. Sie kamen ihm länger vor. Wie ein großer Teil seines Lebens. Alles andere davor verblasste langsam. Alles, außer Lisa! Diese Krankheit war dabei, sein Leben zu verdrängen.
Julian kam ab jetzt jeden Morgen und Abend und tatsächlich gewöhnte Marvin sich daran, von einem Mann so intim berührt zu werden. Eines Morgens blieb er nach der Morgenwäsche noch etwas länger. Er sah sich um in Marvins Schlafzimmer und verweilte kurz an dem Bild von Lisa und Marvin aus einem Spanienurlaub, das an der Wand hing. Dann wandte er sich Marvin zu.
»Darf ich Platz nehmen?«
Er wies auf den einzigen Stuhl im Raum.
Marvin nickte, neugierig, was er wohl wollte, und der junge Mann setzte sich.
»Ich würde Sie gerne interviewen?«
»Interviewen? Wozu das?«
»Nun, ich schreibe ein Buch und dazu brauche ich Erfahrungen von Menschen wie Ihnen.«
»Was glauben Sie denn, von mir Großartiges zu erfahren?«
»Denken Sie nicht, dass Ihr Schicksal Andere interessieren könnte?«
»Mein Schicksal interessant für Andere? Ich kann Ihnen höchstens über die Erfahrung berichten, dass das niemanden interessiert!«
Julian stand kurz auf und holte aus seiner Tasche, die er in einer Ecke des Schlafzimmers abgelegt hatte, ein großes schwarzes Notizbuch und einen Stift heraus. Dann setzte er sich wieder und begann, Marvin auszufragen. Persönliche Daten wollte er wissen, betonte aber, er könnte Marvins Namen gerne ändern, wenn er dies wünsche. Dann fragte er nach der genauen Diagnose.
»Oh – Glioblastom! Davon habe ich bereits gehört«, sagte er. »Einer meiner Interviewpartner war daran erkrankt.«
Neugierig beugte sich Marvin vor und blickte auf die Aufzeichnungen, als könnte gerade auf diesem Blatt etwas über diesen Mann geschrieben stehen.
»Was ist aus ihm geworden?«, fragte er.
»Er starb im

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