Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
zeigte.
»Sie haben ein weiteres Glioblastom entdeckt!«, sagte er und machte eine Pause, weil ihn das Ausmaß der Diagnose erschütterte.
Doch auf eine Reaktion wartete er vergeblich. Niemand erwiderte etwas. Sie konnten es nicht, denn sie hatten es nicht gehört. Man hatte sich wieder anderen Gästen zugewandt und sie diskutierten lebhaft über seinen Kopf hinweg ihre eigenen Erlebnisse in Krankenhäusern. So, als säße er überhaupt nicht mit ihnen in einem Raum. Marvin sah sich die Runde eine Weile an. Für wie viele von ihnen war er zum Beichtvater geworden? Heute gab es wohl nichts zu gestehen. Nur Basti saß alleine und schweigend auf einem Stuhl in einer Ecke und wippte mit den Knien. War es bloß Verlegenheit, die sie zu überspielen versuchten oder schlicht Desinteresse? Langweilte sie Marvins Schicksal inzwischen, da nichts Neues passierte? Ein paar weitere Tumore bei einem Totgeschriebenen waren ja nichts wirklich Neues. Mehr als todkrank ging wohl nicht. So viele Menschen, mit denen er in Beziehungen stand, und nicht einer von ihnen litt mit ihm. Ja – das war es, was er wollte – pures Mitleid, wenigstens ein bisschen. Doch sie redeten und redeten.
Marvin fühlte sich auf einmal gedrängt, etwas zu tun, was er sonst höchstens gedacht hätte. Mitten in das laute Redewirrwarr warf er leise im Tonfall der Anderen ein, dass er auf Besuch wie diesen getrost verzichten könnte. Er murmelte es mehr vor sich hin. Die in Diskussion vertiefte Gemeinschaft im Zimmer überhörte es. Nicht überraschend! Wie weit, dachte er sich, könnte er wohl gehen – wie weit müsste er gehen, damit sie ihn wahrnahmen?
»Ich hasse euch – ihr seid ignorante Schmarotzer!«
Auch diese Worte gingen im allgemeinen Gelaber unter. Wahrscheinlich musste er seine Stimme erst erheben und vielleicht auch mal den Tonfall ändern.
»Ich will, dass ihr verschwindet!«, schrie er heraus.
Lisa unterbrach plötzlich ihre Unterhaltung mit Julia und drehte sich ihm zu.
»Hast du was gesagt, Schatz?«
Aha, Lisa musste trotz ihres angeregten Meinungsaustausches mitbekommen haben, dass Marvin etwas gesagt hatte, was man normalerweise nicht sagt und was sie offenbar etwas anging.
Da Lisa ihr nicht mehr zuhörte, verstummte auch Julia. Und nach Julia pausierten nach und nach alle anderen Redner im Raum und sie alle sahen ihn fragend an. Marvin blickte in ihre Gesichter, um Spuren des Ertapptseins und der Reue zu finden. Doch nichts dergleichen. Unschuldig – allesamt! Nur Basti verzog sich grinsend aus dem Zimmer. Keiner der anderen hatte wirklich mitbekommen, was genau Marvin eben in den Raum gerufen hatte.
Ein bisschen noch ließ Marvin ließ sie zappeln, bis Lisa endlich fragte: »Was ist denn, Marvin?«
Allem Anschein nach erwartete man etwas Aufsehenerregendes von ihm. Etwas, was wichtig genug war, ihre Unterhaltungen zu unterbrechen. Nicht die blöden Tumore, sondern etwas Neues. Das sollten sie haben! Während er eine Weile nachdachte, verstärkte diese lange Pause noch die Spannung. Wie wäre es mit einem Ereignis, welches sie ein wenig fordern würde? Oder etwas, was sie peinlich berühren könnte? Oder beides gleichzeitig?
Mit unvermeidbar, jedoch nur ganz geringfügig hochgezogenen Mundwinkeln saß Marvin kerzengerade im Rollstuhl und verkündete: »Ich habe gerade unter mich gemacht!«
Plötzlich starrten alle. Entsetzen in ihren Augen! Sie stierten auf seinen Unterleib und den Rollstuhl, und obschon sie natürlich nichts erkennen konnten, schienen sie davon überzeugt, es bald schon zu riechen. Ganz offensichtlich war die Tatsache, dass Marvin unter sich gemacht hatte, wesentlich schlimmer, als dass man ein weiteres Glioblastom in seinem Kopf entdeckt hatte. Aufregung erfüllte den Raum. Was jetzt? Allen voran sah sich Lisa mit einem Problem konfrontiert. Jetzt wurde Handeln von ihr als Ehefrau gefordert und allem Anschein nach war sie mit dem, was man nun von ihr erwartete, ein wenig überlastet. Mit Genugtuung nahm Marvin ihre Bestürzung wahr. Ihre Fassungslosigkeit und die peinliche Betroffenheit der anderen entschädigten ihn für den Frust, den sie ihm bereitet hatten.
Einige verließen bald pietätvoll den Raum, mit der Entschuldigung, dass sie nicht stören und lieber draußen warten wollten. Andere wollten gerade sowieso gehen und verabschiedeten sich ebenso schnell. Möglicherweise, so mutmaßte Marvin, war das nun das letzte Mal gewesen, dass er diese Menschen gesehen hatte. Er beschloss, es nicht schade zu finden. Der
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