Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
mein Leben. Tue dir und mir das nicht an, danach zu fragen. So hatten wir es doch besprochen.«
Marvin ließ seinen Kopf in ihre Hände hineinfallen. »Ja, so hatten wir es besprochen«, flüsterte er mit geschlossenen Augen, als ob er es selber nicht hören sollte.
In dieser Nacht schlief Marvin kaum. Zu viele Gedanken jagten durch seinen Kopf. Nie hatte er sich dem Tod näher gefühlt als jetzt. Wie viel Zeit blieb ihm überhaupt?
Lisa schlief nicht neben ihm im Ehebett. So gerne hätte er ihren warmen Körper berührt, ihren Mund beobachtet, wie er sich beim Atmen öffnete, während sie schlief, die verbrauchte Luft aus ihren Lungen gerochen. Mit Wehmut dachte er an die Zeit, als das Schlafzimmerbett noch ein Ehebett gewesen war. Ihre weiche Haut, die erotischen Stunden, die geplanten Tickets für Stockholm. Wäre er nicht krank geworden, hätte sie vielleicht ›ja‹ gesagt zu Stockholm, als letzte Chance für ihre Ehe. Jetzt war es zu spät. Er hatte einfach zu lange gewartet. Man sollte niemals warten!
Lisa schlief im Gästezimmer, allein. Er hörte sie abends leise weinen. Marvin spürte, wie seine Nasenschleimhäute anschwollen und die Atemwege verstopften. Tränen wollten seine männlichen Augen überschwemmen. Er unterdrückte sie und legte sich in eine andere Position. Doch jedes Mal, bevor er richtig einschlafen konnte, bemerkte er sein eigenes Schnarchen und so wälzte er sich im Bett hin und her.
Schließlich schlief er doch ein, aber nicht tief und erleichternd, sondern sein Gehirn erfand beängstigende Träume. So sah er sich selbst, im Sterben liegend, im Krankenbett. Und trotzdem stand er auch neben dem Bett und betrachtete seinen sterbenden Körper wie ein Außenstehender. Karl, der Pfarrer, stand ihm zur Seite und gemeinsam versuchten sie vergeblich, Wiederbelebungsversuche an Marvins hinfälligem Körper vorzunehmen. Sie waren beide richtig verzweifelt und wie im echten Leben kam niemand sonst zu Hilfe.
Danach träumte Marvin, dass Lisa ihm seine eigene Beerdigung mitteilte, die an diesem Tag noch stattfinden sollte. Aber Marvin wollte das nicht. Er sagte, dass er sich heute doch noch so wohlfühle und sie sollte die Beerdigung auf Morgen verschieben. Daraufhin sah Lisa ihn lange an und nickte schließlich zustimmend. ›Gut, dann warten wir bis morgen.‹ Dieser Tag war ihm also gerettet! Dass die Beerdigung schon geplant war, obwohl er noch lebte, schien für sie beide im Traum völlig selbstverständlich zu sein.
Nach diesen Albträumen war Schlafen völlig unmöglich. Marvin starrte im Liegen an die Decke. Wie sollte sie eigentlich aussehen, seine Beerdigung? Dass er verbrannt werden wollte, war für ihn selbstverständlich. Er konnte den Gedanken an ein sich bewegendes Gewimmel von Würmern in seinem Bauch und in seinem Kopf nicht ertragen. Ein schauderhafter Gedanke, dass sich Tiere durch seine Nasengänge und aus seinen Augenhöhlen winden könnten. Irgendwann in der Nacht, nach etlichem Hin- und Herdrehen im Bett, entschloss er sich, alle Schlafversuche zu unterlassen und stattdessen darüber nachzudenken, was er vor seinem Tod unbedingt noch erledigen müsste.
›Ein Testament muss her!‹, dachte er. Und warum sollte er seine eigene Beerdigung nicht selbst planen? Viel Zeit blieb ihm vielleicht nicht mehr, darum musste er diese Dinge sofort in Angriff nehmen. Wer wusste schon, wie lange er noch so klar denken konnte wie jetzt. Marvin wartete nicht auf den nächsten Morgen. Er machte Licht, nahm einen Block mit Rechenkästchen und einen Druckbleistift aus seinem Nachtschrank, setzte sich – so weit er konnte – aufrecht ins Bett und begann mühselig mit einer Liste der Angelegenheiten, um deren Ausführung er sich bis zu seinem Tod noch kümmern wollte. Niemand, außer ihm selbst, würde sein verkrampftes Gekrickel lesen können.
Marvin überlegte, wem er was hinterlassen wollte. Christoph jedenfalls würde nicht in seinem Testament auftauchen! Basti sollte den Betrag bekommen, den er brauchte. Das meiste seines Eigentums würde sowieso an Lisa gehen. Eigentlich wollte er sie als Alleinerbin in sein Testament eintragen, was besonders für sein Gespartes galt, welches als finanzielle Absicherung für sein Alter gegolten hatte. Alles zur Seite gelegt, um jetzt eine vermögende Witwe zurückzulassen. Warum nur um alles in der Welt hatte er so viel angespart? Nie hatte er auch nur einen Gedanken daran verschwendet, vielleicht auch relativ jung diese Welt verlassen zu müssen. Alles hatte
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