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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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hinein. Nein, er konnte seiner Schwester nicht mehr böse sein. Mit einem Lächeln löste er die Anspannung im Raum und sie lächelte zurück.
»Tut mir leid, Marvin.«
Ina senkte die Augen.
»Was tut dir leid?«
»Das mit dem Rollstuhl.«
»Das mit dem Rollstuhl und dem Kleinen ist in Ordnung. Das Kind ist vorurteilsfrei.«
Inzwischen nahm die Geburtstagsrunde wieder leise Gespräche auf. Lisa tauchte mit Sektgläsern aus der Küche auf. Vorwurfsvoll blickte sie Basti an, als sie Marvin im Wohnzimmer entdeckte. Doch sie wurde abgelenkt. Ein lautes ›Aha‹ machte die Runde. Vierzig Jahre – unglaublich, wo sie doch so jung aussah! Marvin erinnerte sich an das duftende Päckchen mit dem Parfum in seiner Tasche. Wenigstens dieses kleine Geschenk wollte er ihr überreichen, wenn er sie für sich alleine hatte.
Man stieß auf das Geburtstagskind an und der Sekt sorgte für ausgelassene Stimmung bei den Gästen. Sie lachten, unterhielten sich laut und Marvin fand sie einen Tick zu fröhlich. Von seinem Platz aus, nahe der Tür, beobachtete er die Runde und erinnerte sich dabei an jeden einzelnen ihrer Besuche bei ihm im Krankenhaus. Er musterte Julia, seine Mutter, Christoph, dem er einen verächtlichen Blick zuwarf, Jens, diesmal ohne Marietta im Pack, seinen Bruder Basti – und alle anderen Besucher, die Lisa umschwirrten, wie ein funkelndes Licht. Christoph, der Taugenichts von Möchtegern-Schwiegersohn, machte sich plötzlich nützlich. Eifrig sorgte er für Sitzgelegenheiten. Lisa sollte sich in den bequemsten aller Sessel setzen. Ihr die Sitzfläche unter den Po schieben konnte Christoph jedoch nicht, denn das erledigte Jens für ihn, ebenso eifrig.
»Lisa zu Ehren!«, verkündete Jens und hob das Glas. Alle hoben mit. Lisa lachte verschämt. Ihr schien der Rummel um ihre Person zu gefallen. Und Marvin saß matt und hohlbirnig im Rollstuhl vor ihnen, bemützt, aber kahlköpfig darunter, unattraktiv und am Genital wie ein Baby.
›Sie hofieren sie‹, schoss es ihm durch den Kopf. Sie umtänzelten Lisa wie gierige verliebte Schwäne. Besonders Jens schien ihm der Eifrigste unter ihnen zu sein. Marvin hasste das Lachen der Menschen um ihn herum. Er konnte ja ihre Lebensfreude nicht mit ihnen teilen. Ein weiteres Glioblastom! Als ob eins alleine zum Sterben nicht genügte. Im Angesicht der allgemeinen Heiterkeit wurde ihm das Ausmaß dieser Diagnose richtig klar.
»Wie geht es dir denn, mein Junge?«
Seine Mutter stand vor ihm. Ob sie das wirklich wissen wollte? Marvin tippte auf ›nein‹ und stellte die Gegenfrage, worauf sie zu jammern begann … die alten Knochen … und wenn doch Vater noch lebte … Sie ging am Stock, wackelig, aber sie stand, und er schaute zu ihr hoch.
»Hast du das damals wirklich versucht? Das mit dem Kissen?«
Seine Mutter stoppte ihr Geschwätz. Lange sah sie ihn an und Marvin konnte ihr ansehen, wie sie nachgrübelte, ihr Gehirn in Arbeit versetzte, darin wühlte, um ihn zu verstehen und eine Antwort zu finden.
»Bestickte Kissen?« Sie nickte mit dem Kopf. »Die habe ich früher oft gebügelt. Morgen wird Basti mir das Geld bringen.«
Marvin verfolgte ihren hinkenden Gang, bis sie sich auf dem Sofa niederließ und still, in sich versenkt, sitzen blieb. Auch sie lebte in ihrer eigenen Welt, die sie nicht teilen konnte.
Kuchen wurde gereicht, kleine Sahnestückchen und trockenes Gebäck. Für einen Moment löste sich das laute Geschwätz aus den zahlreichen Mündern in dem Klimpern von Gabeln auf Tellern und dem Gemurmel mit vollgestopften Backen auf. Marvin hatte man auch Kuchen angeboten. Aber er wollte nicht.
»Erzähl doch mal, wie es im Krankenhaus war«, rief Jens ihm zu. Man kaute und zwölf weitere Augenpaare gafften ihn neugierig an.
Marvin räusperte sich. So plötzlich im Mittelpunkt zu stehen, behagte ihm jetzt auch wieder nicht. Eigentlich war es ja das, was er wollte – Zuhörer! Aber nun war es ihm auf einmal unangenehm. Schleppend begann er, ein bisschen von seinem Alltag im Krankenhaus zu beschreiben. Hierzu wussten einige der Gäste etwas beizutragen. Man regte sich auf. Diese schreckliche Routine und die ständige Zeitnot der Pflegenden empfand man als gesellschaftliches Problem. Marvin erzählte mehr. Er erzählte von der schrecklichen Spastik und von der MRT. Er beschrieb die Untersuchung in der Röhre im Detail, da jemand danach fragte. Und er beschrieb seine Angst vor der Auswertung der Aufnahmen beim Chefarzt und sein Entsetzen, als man ihm die Bilder

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