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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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sich immer nur um ein weit entferntes Alter gedreht. Diese unter Verzicht ersparten Summen, ganz abgesehen von den vier Lebensversicherungen, die er sich jetzt nicht einmal auszahlen lassen konnte, um mit dem Geld noch etwas anzufangen – das alles war für ein Alter gedacht, das er niemals erreichen würde. Nun gut – Lisa würde ihren Anteil bekommen. Noch waren sie ein Ehepaar. Insofern konnte er ein gutes Gewissen haben. Aber was seine anderen Schätze anging – wer von seinen Verwandten und Freunden würde was zu schätzen wissen? Es aufbewahren, mit der gebührenden Aufmerksamkeit behandeln, vielleicht sogar vervollständigen und im Idealfall auch noch weitergeben an die nächste Generation?
Als Erstes fiel ihm die umfangreichste seiner Büchersammlungen ein: die Nobelpreisträger für Literatur der Jahrgänge 1901 bis 1980, ein Erbstück seines Vaters. Nicht weil sie wertvoll, sondern weil sie einfach raumergreifend war. Er hatte sie alle gelesen, jedes der sechsundsiebzig Bände, von ›Intimes Tagebuch‹ von Sully Prudhomme bis ›Tal der Issa‹ von Czeslaw Milosz. Meistens dann, wenn Lisa eigentlich etwas hatte unternehmen wollen. Der Wert dieser Drucke war ein ideeller – das Andenken an Marvins Vater. Außerdem konnte er nun mal keine Bücher wegwerfen. Um nichts in der Welt wollte er sie in Lisas Machtbereich wissen. In dieser Hinsicht kannte er sie als Banausin. Das Einzige, was er Lisa je hatte lesen sehen, waren bunte Klatschzeitschriften über Mode, Prinzen und Prominenz. Wer also sollte die Sammlung bekommen? Jens? Besaß der nicht eine ähnliche Ausgabe?
Marvin nahm den Zettel mit Rechenkästchen, um aufzulisten, was er alles an wen verschenken wollte. Hölzern wehrten sich seine Finger im Bemühen um das inzwischen ungewohnte Schreiben und die ersten Wörter schrieb er wieder und wieder, bis sie ihm einigermaßen lesbar erschienen.
In der ersten Zeile trug er also ›Büchersammlung Nobelpreisträger‹ ein. Daneben malte er einen verkritzelten leeren Kreis, der später abzuhaken wäre. Was war mit seinem Werkzeug? Ebenso kein Fall für Lisa. Werkzeug fand seinen Platz unter Bücher und er eröffnete wieder einen leeren Kreis zum späteren Abhaken. Der Rasierer fiel ihm ein. Eine unwichtige Sache? Von wegen! Auf keinen Fall wollte er seinen Rasierer nach seinem Tod im Badezimmer zurücklassen, denn wer auch immer diesen dort gebrauchen würde – es würde ein Mann sein. Und ein Mann, der sich in Lisas Badezimmer morgens den Bart mit Marvins Rasierer abrasierte, würde aller Wahrscheinlichkeit nach bei Lisa übernachtet haben. Marvin konnte leider nicht verhindern, dass Lisa diesen anderen Mann mit nach Hause nehmen würde. Einen Mann, der mit einem Handtuch um die Lenden vor dem Spiegel in ihrem Badezimmer stehen würde, um sich zu rasieren. Keinesfalls jedoch wollte Marvin, dass dieser Mann dann seinen Rasierapparat benutzt. Der Rasierer musste vorher weg. Marvin schrieb ihn auf die Liste, darunter schrieb er weitere intime Dinge, wie ‚Morgenmantel’ – obwohl, wer wollte schon den Morgenmantel von einem Kranken?
Er listete die Dinge auf, die sich in seinem Nachtschränkchen befanden: drei Taschenlampen (Lisa könnte, wenn überhaupt, höchstens eine gebrauchen), sein Notizbuch, seine Lesebrille, seinen alten Minicomputer, den er immer noch jeden Abend zum Entspannen vor dem Einschlafen gebraucht hatte, bevor er krank wurde. Auch seine Sammlung von PC-Zeitschriften war ihm zu schade zum Wegwerfen. Hierfür würde er sicher einen dankbaren Abnehmer finden. Blöd war, dass er nicht mal eben aufstehen konnte, um seine intimsten Besitztümer in seinem Schrank durchzuschauen. Das hätte Lisa nebenan im Gästezimmer geweckt. Er musste es im Geiste tun. Es gab derzeit nicht einmal eine Chance für ihn, die beiden versteckten uralten Pornohefte unter seinem Nachtschränkchen zu beseitigen. Wohin sollte er sie werfen? Marvin wusste, er würde sie vergessen und Lisa würde sie eines Tages entdecken und fassungslos verletzt sein. Und sie würde womöglich glauben, ihre Ehe wäre auf seine Sexsucht begrenzt gewesen. Marvin versuchte, diese Peinlichkeit zu verdrängen und konzentrierte sich weiter auf seinen sonstigen Nachlass. So füllte sich das Blatt mit sinnvollen und weniger sinnvollen Nachlässen. Manchmal schlief er zwischendurch ein. Dann wachte er nach kurzer Zeit wieder auf und arbeitete weiter. Schließlich hatte seine Aufstellung den beachtlichen Umfang von mehreren Blättern Papier

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