Der Tod kommt wie gerufen
Uhr zeigte 22 Uhr 22.
Zeit zum Gehen.
Ich fuhr eben in meine Auffahrt, als Slidell anrief.
Seine Neuigkeiten übertrumpften meine.
»James Edward Klapec. Nannte sich Jimmy. Siebzehn. Sieht mit Kopf besser aus. Aber nicht viel.«
Slidells Bemerkung ärgerte mich noch mehr als gewöhnlich. Er redete über ein totes Kind. Ich sagte nichts.
»Die Eltern leben im Osten, in der Nähe von Jacksonville«, fuhr Slidell fort. »Vater war früher bei der Navy, ist jetzt Tankwart, die Mutter arbeitet im Laden des Camp Lejeune. Mein kurzer Anruf hat ergeben, dass der kleine Jimmy sich letzten Juni aus dem Staub machte.«
»Wussten die Eltern, dass er in Charlotte lebte?«
»Ja. Der Junge rief alle paar Monate mal an. Der letzte Anruf kam irgendwann Anfang September. Das genaue Datum wussten sie nicht mehr. Sie dürfen allerdings nicht vergessen, dass diese Leute nicht gerade auf eine Einladung von MENSA warten.«
Ich fragte mich, woher Slidell den Hochintelligenzlerverein MENSA kannte, aber ich ließ es dabei bewenden.
»Die Klapecs kamen also nicht nach Charlotte, um ihren Sohn nach Hause zu holen?«
»Laut Dad war der Junge sechzehn und konnte tun, was er wollte.« Slidell hielt kurz inne. »Das sagte er zwar, aber dieser Scheißkerl war für mich wie ein offenes Buch. Der Junge war schwul, und Klapec wollte nichts mit ihm zu tun haben.«
»Warum sagen Sie das?«
»Hat ihn eine Schwuchtel genannt.«
Das war eindeutig.
»Warum war Klapec im System?«
»Der Junge war ein Hühnerhabicht.«
Das ergab keinen Sinn. Im Jargon meiner schwulen Freunde war ein Hühnerhabicht ein älterer Schwuler, der nach jungem Blut suchte.
»Ich weiß, dass Sie mir das erklären werden«, sagte ich.
»Punks, die in Schwulenbars herumhängen und nach Beute Ausschau halten. Klasse Leben. Mach’s einem Stecher, kassier die Kohle, dröhn dich zu.«
Da ich annahm, dass es sich um Polizistenslang handelte, ließ ich auch diesen Satz unkommentiert.
So hatte der Junge vom Lake Wylie also einen Pfad beschritten, den viele Ausreißer einschlagen. Ein Teenager läuft von zu Hause weg, weil er woanders die große Sause erwartet, endet aber schließlich bei Essensresten aus der Mülltonne und krummen Touren. Es ist herzzerreißend, aber vorhersehbar.
»Haben Sie mit seiner Mutter gesprochen?«
»Nein.«
»Haben Sie den Zustand der Leiche erwähnt?«
Ein kurzes Schweigen. Dann: »Wenn wir den Kopf finden, dann brauchen sie es vielleicht gar nicht zu erfahren.«
Also hatte Holzklotz Slidell doch ein Herz.
Ich berichtete ihm von dem Wachsabdruck.
»Ist einen Versuch wert«, sagte Slidell. »Klapec hatte sein Revier in NoDa, bei der Thirty-sixth und der North Davidson.« NoDa. North Davidson, Charlottes Version von SoHo. »Rinaldi wird sein Foto herumzeigen, mal sehen, was die Jungs dort zu sagen haben. Bevor er dorthin fährt, schick ich ihn zu Ihnen, damit er das Wachs abholt und ins Labor bringt.«
»Wann nehmen Sie sich Cuervos Laden vor?«
»Schlag acht. Und, Doc?«
Ich wartete.
»Halten Sie sich vom Rampenlicht fern.«
Über Nacht hatte sich eine Front von den Bergen heruntergewälzt und die angenehme Wärme vertrieben, die über dem Piedmont gelegen hatte. Als ich aufwachte, roch es nach feuchtem Laub, Regen prasselte gegen mein Fenster. Hinter der Scheibe bogen sich Magnolienzweige im Wind.
Cuervos Laden lag am äußeren Rand des Zentrums, in einer Gegend, die nicht gerade ein Schaufenster der Queen City war. Manche Geschäfte waren typisch Dixie der Fünfziger und Sechziger, Hühnchen- und Burger-Filialen, Autowerkstätten und Grilllokale. Andere versorgten Kunden, die erst später gekommen waren. Tienda Los Amigos. Panadería y Pastelería Miguel. Supermercado Mexicano. Alle befanden sich in Einkaufsstraßen, die schon bessere Zeiten gesehen hatten.
La Botaníca Buena Salud war da keine Ausnahme. Das Backsteingebäude mit dunklen, braun getönten Fenstern präsentierte sich zwischen einem Tätowier- und einem Sonnenstudio. Eine Eisdiele, eine Versicherungsagentur, ein Laden für Sanitärbedarf und eine Pizzeria vervollständigten die Zeile.
Ein völlig verbeulter Mustang und ein uralter Corolla standen auf dem schmalen Asphaltstreifen vor dem Laden. Beide glänzten wie von einem stolzen, neuen Besitzer frisch poliert. Doch bei den Karren hätte auch ein kräftiger Regenguss gereicht.
Ich parkte und drehte das Radio auf einen Oldie-Sender. Während ich Kaffee aus einem Thermosbecher trank, lauschte ich der Weekend
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