Der Tod kommt wie gerufen
Edition.
Zehn Minuten vergingen, ohne dass Slidell oder die Spurensicherung sich zeigten. So viel zu Schlag acht.
Der Regen verwischte die Neonreklame über dem Tätowierstudio zu orangenen und blauen Schlieren. Durch den Schleier auf meiner Windschutzscheibe sah ich zu, wie ein Obdachloser, dem ein triefnasses Sweatshirt bis auf die Knie hing, in Mülltonnen wühlte.
Scott Simon berichtete eben von mutierten Fröschen, als mein Blick zum Außenspiegel wanderte. Slidell tauchte in dem Glas
auf. Darunter verkündete ein Schriftzug: Gegenstände im Spiegel sind näher, als sie erscheinen.
Ein ernüchternder Gedanke.
Ich stellte den Motor ab und stieg aus.
Slidell frühstückte ebenfalls unterwegs, Hot Dog und Orangenlimonade.
»Gießt ganz schön, was?« Mit vollem Mund.
»Mhm.« Wasser durchtränkte meine Haare und lief mir übers Gesicht. Ich zog mir die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf. »Kommt die Spurensicherung?«
»Ich dachte, wir sehen uns erst mal selbst um und rufen sie, falls wir sie brauchen.«
Da Slidell es vorzog, seine Tatorte und Schauplätze jungfräulich zu untersuchen, ließ er sich normalerweise Zeit, bis er die Techniker dazuholte.
Nach einem letzten Bissen und einem letzten Schluck zerknüllte Slidell das Einwickelpapier und stopfte es in die Dose, zog dann einen Schlüsselbund aus der Tasche und schwenkte ihn. »Das Arschloch von der Hausverwaltung hat’s nicht gerade mit der Pünktlichkeit.«
Ein Stückchen weiter oben war ein Gully verstopft, was die Straße in einen flachen Tümpel verwandelte. Gemeinsam platschten Slidell und ich zu dem Laden.
Ich wartete, während er verschiedene Schlüssel durchprobierte. Ein Bus rauschte vorbei, von seinen Rädern spritzte Wasser auf.
»Soll ich’s mal versuchen?«
»Hab’s gleich.«
Die Schlüssel klimperten weiter.
Regen prasselte auf Slidells Windjacke und tropfte vom Schirm seiner Kappe. Mein Sweatshirt wurde schwer und fast so lang wie das des Penners.
Irgendwo in der Ferne jaulte eine Autoalarmanlage auf.
Schließlich klickte etwas. Slidell drückte gegen die Tür. Sie öffnete sich mit leisem Glockengebimmel.
Der Laden war muffig und dämmrig und überladen mit so vielen Gerüchen, dass einzelne kaum zu identifizieren waren. Tee. Minze. Staub. Schweiß. Andere kitzelten die Nase nur leicht. Pilze? Nelken? Ingwer?
Meine Augen gewöhnten sich noch an die Dunkelheit, als Slidell den Lichtschalter fand.
Die Grundfläche betrug knapp sieben mal sieben Meter. Aluminiumregale säumten die Wände und bildeten Reihen quer durch den Raum. Slidell ging einen der Zwischengänge entlang.
Ich nahm mir einen anderen vor und las wahllos Etiketten zu meiner rechten Seite. Stärkungsmittel. Hirnkräftiger. Mittel für Zähne und Zahnfleisch.
Ich drehte mich um und überflog die Produkte auf der anderen Seite. Hautumschläge. Aloe-Balsame. Tinkturen von Ulme, Berberitze, Fenchel und Wacholder.
»Das klingt gut.« Slidells Stimme klang laut in der muffigen Stille. »Parkinson-Set. Kein Zittern mehr. Wer’s glaubt, wird selig. « Ich hörte das Klicken von Glas auf Metall, dann Schritte. »Was haben wir denn da? Leidenschaftsöl. Ein uraltes Hindu-Rezept. Klasse. Da steht dein Johannes und strahlt.«
Ich verkniff mir einen Kommentar.
Hinter den Regalreihen stand parallel zur Rückwand des Ladens eine hölzerne Ladentheke und darauf eine alte, aber ganz normal aussehende Registerkasse. Dahinter sah ich einen Durchgang mit Vorhang.
Slidell stellte sich mit verzogener Miene neben mich.
»Sieht alles ziemlich normal aus«, sagte ich.
»Mhm.« Slidell hob eine hölzerne Klappe an, die das eine Ende der Ladentheke mit der Wand verband. »Mal sehen, was der Fürst der Leidenschaft im Hinterzimmer versteckt.«
Die Schwelle zu überqueren war, als würde man in eine andere Welt treten. Sogar die Gerüche machten eine Verwandlung durch. Was uns hinter dem Vorhang empfing, roch nach Flora und Fauna und Dingen, die lange tot waren.
Der Raum hatte kein Fenster, und von vorne drang nur wenig Licht herein. Wieder suchte Slidell nach einem Schalter.
Im Licht einer einzelnen Birne, die von der Decke hing, sah ich, dass der Raum etwa drei mal fünf Meter groß war. Wie vorne waren auch hier die Wände von Regalen gesäumt. Aus Holz, nicht aus Aluminium. Die auf der rechten Seite waren in Fächer von etwa zwanzig Zentimeter Kantenlänge unterteilt. In jedem dieser Fächer lag in der Mitte ein kleines Bündel.
Die Regale auf der rechten Seite
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