Der Tod meiner Mutter
diesen Teil so weit selbst bestimmen,
wie es ging. Sie begann, wenn man so will, ihr sechstes Leben. Sie war die Tochter gewesen, die sie trotz allem immer blieb.
Sie war die Ehefrau gewesen, die sie vielleicht nie war. Sie war die Mutter gewesen, zu der sie wurde. Sie war die Emanzipierte
gewesen, die sie sein wollte. Sie war die Selbstbestimmte gewesen, die im Beruf und Leben endlich weiß, was sie will. Und
nun war sie eben nicht allein die Krebskranke, die Leidende. Sie fand für sich eine neue Rolle, sie fand in der Krankheit
die Kraft, Abstand zu nehmen von ihrem alten Leben und ein neues zu beginnen.
Am Tag nach ihrem 60. Geburtstag kündigte sie in der Familienberatungsstelle, ein paar Wochen später, Ende 1995, kündigte
sie ihre Wohnung in dem pyramidenförmigen Hochhaus in Oberföhring, wo sie seit ein paar Jahren lebte. Sie verließ dieses Viertel,
wo sie so vieles von ihrem alten Leben umgab, und suchte sich ihre neue Wohnung im Gärtnerplatzviertel, wo es Restaurants
gab und Cafés und den Viktualienmarkt und die Oper und die Theater und all das, was sie für sich entdeckte, all das, was ihr
neues Leben werden sollte. Sie schrieb ihr Buch zu Ende, sie gab mehr Fortbildungen und wurde Dozentin an der Fernuniversität
Hagen. Sie lud ihr Fahrrad ins Auto, um damit an den Starnberger See zu fahren. Sie begegnete mir in den Kammerspielen auf
Premieren und erzählte mir von den tollen Händel-Inszenierungen bei den Opernfestspielen, die ich alle nicht gesehen hatte.
Sie reiste bis nach Zürich und nach Basel, um sich eine Inszenierung von Christoph Marthaler anzusehen oder eine Ausstellung
in der Fondation Beyeler. Sie war oft in Umbrien, sie fuhr jeden Dezember für zwei Wochen nach Zypern, wo sie im Meer schwimmen
konnte und wo sie sich mit einer anderen älteren Frau anfreundete, die so einsam war wie sie.
Sie lebte die meisten dieser zwölf Jahre lang, als habe ihr die Krankheit eine Welt eröffnet.
»Es tut so weh«, sagte sie und schaute weg, und ich war genervt von ihr, was war denn nun schon wieder?
»Der ganze Mund ist wund, ich kann kaum nochschlucken. Alles bleibt an meinem Gaumen hängen. Das klebt da, es ist furchtbar.«
Sie wusste, dass sie jammerte, und es tat gut, mal jemanden zum Jammern zu haben.
Wir saßen draußen auf der Terrasse, es kann ein Sommertag im Jahr 2003 oder 2004 gewesen sein, die Krankheit hatte so lange
über ihrem Leben geschwebt, dass sie fast abstrakt wurde und sehr weit weg war, jedenfalls für mich. Sie erzählte an diesem
Tag viel von den Ärzten und von den Behandlungsmethoden, sie hatte sich immer gut informiert und war sehr zufrieden mit ihrem
Arzt. Ich hörte ihr zu und behielt wenig.
In der Routine liegt eben auch eine Distanz. Das ist eine Komponente dieser Krankheit, der Krebs weitet sich aus, breitet
sich aus, im Körper, aber auch in den Beziehungen zu anderen Menschen. Darunter hat meine Mutter gelitten. Die körperlichen
Symptome gingen nur sie und ihren Arzt etwas an. Aber die Freunde, die am Telefon so klangen, als wollten sie schon kondolieren,
und die dann immer seltener anriefen; die Angst, die meine Mutter spürte in den Begegnungen mit Menschen, die sie schon lange
kannte; und die Leere, die sich um sie herum ausbreitete, gegen die sie meistens kämpfte, obwohl sie in gewisser Weise auch
zu ihrem Wesen gehörte: All das waren Nebenwirkungen der Krankheit, Begleiterscheinungen, die dem Krebs eine tägliche Präsenz
gaben.
Es waren die ganz normalen Dinge, die sich veränderten. Am deutlichsten wurde das beim Essen.Meine Mutter hatte schon nach der ersten Krebsbehandlung aufgehört, regelmäßig Rotwein zu trinken, eine halbe Flasche am
Abend oder mehr, das war nicht selten gewesen, »da schreiben die hier, dass man praktisch schon Alkoholiker ist«, hatte sie
einmal gesagt und mir die Zeitschrift hingehalten, als ich acht oder neun war. Sie war auch immer gern in Restaurants gegangen,
Essen war für sie ein sozialer Gradmesser, ein Akt der Selbstverwirklichung, sie war stolz, dass sie es sich leisten konnte,
oft essen zu gehen, sie mochte es, wenn Männer kochen konnten, und wenn sie in ein Drei-Sterne-Lokal ging, dann war das fast
ein Akt der Abgrenzung, der Freiheit geradezu. Sie hatte auch immer gern gekocht, aber schließlich konnte sie ein Gewürz nach
dem anderen nicht mehr verwenden, Zwiebeln erst, dann Knoblauch, dann eigentlich alles Scharfe und selbst das Salz. Es war,
als
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