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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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Durchsetzungsvermögen,
     Abschiebung von Konflikten, Veranlagung zu depressiven Stimmungen, mangelndes Ausdrucksvermögen von Bedürfnissen und Gefühlen,
     reduzierte Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Symptomen. Heute weiß man, dass es nicht so einfach ist. Geblieben ist die
     Einsicht, dass Krebs nicht nur eine körperliche, sondern auch eine psychische Dimensionhat. Ein Arzt ist bei dieser Krankheit nie nur ein Arzt; er ist ein Gefährte auf unsicherem Terrain.
    Vorübergehend übernahm eine Ärztin die Behandlung. Erst sagte meine Mutter, dass sie ein gutes Gefühl habe, obwohl die Ärztin
     sehr jung war. Später sagte sie: »Die hat mich nicht einmal angefasst.«
    Am 25. Oktober 2005, eine knappe Woche vor ihrem 70. Geburtstag, wurde das Herceptin abgesetzt, sie erhielt vier Chemotherapien
     mit Navelbine. Am 19. Dezember 2005 war der Stand der Tumormarker 47/138, am 17. Januar 2006 48/132. Ich hatte immer noch
     mit keinem der Ärzte gesprochen, die sie behandelten. »CTs«, notierte sie, »alles beim (schlechten) Alten, Leber frei«. Noch
     drei Mal bekam sie Herceptin in einer Dreifachdosis, am 9. Februar, 20. Februar, 6. März 2006, um, wie sie aufschrieb, »zu
     prüfen, ob es überhaupt noch wirkt / noch nicht überprüft. Auswirkung: allgemeine Schlappheit zugenommen, Mundschleimhaut
     sehr verschlimmert, wandernde, aber schmerzhafte Verdickung unter der rechten Achsel«.
    Danach bricht die Chronik ab. Der letzte Eintrag ist: »Medikamente zurzeit: Prelis 50 (alle 8 Stunden 1 Tabl.), Euthyrox 75
     (1 Tabl.)«.

    »Wir heiraten.«
    Sie schaute mich an wie einen Mann, der mehr oder weniger zufällig in ihr Haus geraten ist; dann weichte ihr Blick auf, und
     sie sah mich an wie eine Mutter.
    Sie richtete sich etwas auf, wir saßen am Tisch beimFenster, es war November 2004 und sie war im zehnten Jahr ihrer Krankheit. Es ging ihr nicht gut.
    »Schorsch«, sagte sie nur, nicht mehr, aber darin war schon sehr viel aufgehoben. Wie sie das erste »sch« betonte, das »or«
     kurz übersprang und dann lange auf dem letzten »sch« verweilte. Als ob sie über ganz andere Dinge nachdachte. Darüber, wo
     sie herkam; und darüber, wo ich hinging.
    »Wir werden auf Capri heiraten.«
    Ihre Augen versanken. Die Skepsis, das Misstrauen, die Müdigkeit waren gewachsen, mit jeder Infusion, mit jedem Warten, mit
     jedem Alleinsein. Ich erzählte ihr von dem Hotel in Sorrento, direkt an der Steilküste gebaut, wie über dem Wasser schwebend,
     wie über allem schwebend, hier wäre es möglich, so etwas Schweres zu tun, im Leichten aufgehoben. Und auf Capri gab es eine
     kleine deutsch-evangelische Kapelle, da würden alle mit dem Schiff hinfahren, mein Vater würde den Gottesdienst halten, es
     würde großartig werden.
    Wer würde das besser verstehen, dachte ich, als meine Mutter, die sich immer an dieser Art von Hedonismus gefreut hatte, den
     sie bei mir wiedergefunden hatte und den sie selbst genoss, als eine Art Gegengift zur bürgerlichen Beengtheit ihrer Familie.
     Italien, Ferne, ein Fest, das man nicht vergisst. Verschwendung war für sie nie ein Vorwurf; dazu war Verschwendung in ihrer
     Kriegskindheit viel zu oft etwas gewesen, für das man bestraft wurde. Und trotzdem blieb sie verhangen an diesem Tag.
    »Jeder Schritt tut mir weh«, sagte sie, »ich kann keine zehn Meter laufen, ohne dass ich vor Schmerzen eine Pause machen muss.«
    Sie hatte mir das schon öfter erzählt, ich hatte nie genau darüber nachgedacht. Sie hatte ihr Auto verkauft, das sie nur noch
     benutzt hatte, um am Starnberger See mit dem Rad herumzufahren, dafür fehlte ihr jetzt die Kraft. Ein weiterer Schritt auf
     dem langsamen Abstieg in die Abhängigkeit. Der Gedanke, ihre Wohnung zu verlassen, machte ihr immer mehr Angst.
    »Dann kann ich nicht kommen.«
    Der Satz fiel tief, so tief wie ein Stein von der Steilküste hinunter zum Meer. Ich spürte einen Ärger in mir, der sich gegen
     sie richtete, obwohl er ihre Krankheit meinte. Vielleicht meinte er auch sie.
    Es war einer der Momente, an denen wir uns am weitesten auseinanderbewegt hatten, gerade da, wo wir uns am nächsten sein sollten.
     Ich hatte lange genug neben der Krankheit hergelebt, ohne sie wirklich in all ihren Konsequenzen wahrzunehmen. Und jetzt,
     wo meine Mutter fast zum ersten Mal eine Schwäche zeigte und sich so etwas wie eine Wunde auftat, wollte ich das nicht sehen,
     wollte nichts davon wissen, fühlte mich selbst verletzt.
    »Du meinst, du würdest nicht

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